Gedenken an die Opfer der Hamas bei ihrem Angriff auf das Nova Musikfestival.
Gedenken an die Opfer der Hamas bei ihrem Angriff auf das Nova-Musikfestival.
EPA

Über die geschlechtsspezifische Gewalt durch die Hamas am 7. Oktober werden immer mehr Details bekannt. Sei es in Wohngegenden, Militärbasen oder auf dem Nova-Festival – die Spuren von massiver sexualisierter Gewalt sind deutlich. Die NGO Physicians for Human Rights – Israel (PHRI) hat nun in einem Positionspapier zahlreiche Berichte und Aussagen von Überlebenden, Helfer:innen und anderen Zeug:innen zusammengetragen. Doch auch das sei nur ein Ausschnitt dessen, was passiert sei, denn es fehle an systematischen Analysen der Verletzungen der Opfer. Ebenso gestaltete sich die forensische Beweissicherung nach dem Terroranschlag schwierig, da die Identifikation der Opfer und deren Evakuierung unmittelbar nach dem Anschlag am dringlichsten waren, schreibt die NGO.

Doch trotz Wissenslücken müssten die bisher bekannten Informationen öffentlich gemacht werden. Zum einen, so PHRI, weil dies eine weitere Dokumentation und Berichterstattung der geschlechtsspezifischen Gewalt vom 7. Oktober fördere. Ebenso sollen damit die Überlebenden unterstützt und das Gesundheitssystem auf eine umfassende Behandlung Betroffener vorbereitet werden.

PHRI wurde vor 35 Jahren von einer Gruppe israelischer Ärzte gegründet und setzt sich vor allem für das Recht von Menschen auf Gesundheitsversorgung ein, die kaum oder gar keinen Zugang zum israelischen Gesundheitssystem haben, wie Migrant:innen, Flüchtlinge und palästinensische Bewohner:innen des Westjordanlandes und des Gazastreifens.

Angriff auf die Würde

Die Berichte, die die NGO zusammengetragen hat, legen den systematischen Einsatz von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt nahe. Überlebende und Zeug:innen berichten laut Physicians for Human Rights von unzähligen Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen. Rettungsteams schilderten schwere Verletzungen an Opfern, die auf brutale Vergewaltigungen hinweisen. Diese Vergewaltigungen hätten sowohl kurz vor oder nach der Tötung der Israelinnen stattgefunden. Ebenso gibt es Berichte von Hilfskräften bei der Militärbasis Shura. Dort habe man weibliche Opfer ab der Hüfte entblößt aufgefunden. Medizinisches Personal berichtete von eingelieferten Überlebenden in Spitälern, die deutliche Spuren von sexualisierter Gewalt aufwiesen.

Die NGO nennt auch durch die Hamas verbreitete Videos, die sexualisierte Gewalt an Frauen und Mädchen zeigen. Sexualisierte Gewalt werde eingesetzt, um nicht nur die Würde der Individuen zu verletzen, sondern auch die einer ganzen Gesellschaft und Nation, heißt es in dem Positionspapier. Als Gesundheits- und Menschenrechtsorganisation sei es ihre Pflicht, den Opfern beizustehen und dass "wir als Gesellschaft" die am 7. Oktober 2023 verübte sexualisierte Gewalt anerkennen. "Wir müssen den Kreislauf des Schweigens und der Scham durchbrechen und gute Bedingungen schaffen, um die Heilung der Überlebenden zu unterstützen", heißt es in dem Papier weiter.

Weiter in Gefahr

Die NGO fordert auch die sofortige Freilassung der noch immer von der Hamas festgehaltenen Geiseln. Sie seien weiter einer "anhaltenden Bedrohung" sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Darauf würden bisherige Erfahrungen aus anderen bewaffneten Konflikten in anderen Regionen hinweisen.

Bei dem Angriff der Hamas am 7. Oktober wurden 1200 Menschen getötet, etwa 240 Menschen als Geiseln nach Gaza verschleppt. Israel reagierte auf dieses schlimmste Massaker seit seiner Geschichte mit einer Blockade des Gazastreifens, massiven Luftangriffen und einer Bodenoffensive. Laut Angaben der Hamas wurden dabei bisher rund 15.000 Menschen getötet.

Kritik an fehlender Anerkennung der Gewalt

Die Rechtsprofessorin und Frauenrechtlerin Ruth Halperin-Kaddari recherchiert in Kooperation mit der israelischen Polizei und Geheimdiensten über sexualisierte Gewalt während des Angriffs der Hamas und erstellt Berichte darüber für die Uno. Sie betont im Interview mit dem "Spiegel" die beabsichtigten Verletzungen, die über die individuellen Opfer hinausgehen. Es gehe nicht ums Töten, sondern darum, den "größtmöglichen Horror in der Bevölkerung auszulösen" und "jede Sicherheit zu zerstören". So werde der "Körper der Frau zum Symbol für die Nation, die man verletzt".

Zuletzt wurden immer öfter kritische Stimmen wie auch die von Ruth Halperin-Kaddari laut, internationale Frauenorganisationen würden die sexualisierte Gewalt an Israelinnen nicht oder nur zu zaghaft anerkennen. Halperin-Kaddari sagt, sie habe unter anderem UN Women und das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau der Vereinten Nationen angeschrieben und keine Antwort erhalten. Das habe sie erschüttert, sagt sie im "Spiegel"-Interview.

"Energisch" untersuchen 

Um sich für die Anerkennung der frauenfeindlichen Verbrechen und der sexualisierten Gewalt einzusetzen, trafen sich am 22. November Frauenrechtsexpertinnen mit Vertreterinnen von UN Women. Sima Bahous, Exekutivdirektorin von UN Women, verurteilte in ihrer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat diese Form der geschlechtsspezifischen Gewalt schließlich. Sie sei "alarmiert über die beunruhigenden Berichte über geschlechterspezifische und sexuelle Gewalt" und bekräftigte ihre Forderung aus ihrer Rede vor dem Sicherheitsrat im Oktober, dass "jede Gewalt gegen Frauen und Mädchen, einschließlich sexueller Gewalt, unmissverständlich verurteilt wird und mit höchster Priorität umfassend untersucht werden muss". Am 1. Dezember veröffentliche UN Women ein Statement zur Situation in Israel und Gaza. Darin fordern sie abermals die Untersuchung aller Berichte über geschlechterspezifischer Gewalt sowie deren strafrechtlichen Verfolgung.

UN-Chef António Guterres forderte am Mittwoch auf X (vormals Twitter) schließlich eine Untersuchung der Sexualverbrechen. "Es gibt zahlreiche Berichte über sexuelle Gewalt während der abscheulichen Terroranschläge der Hamas am 7. Oktober, die energisch untersucht und strafrechtlich verfolgt werden müssen", so Guterres auf X. "Geschlechtsspezifische Gewalt muss verurteilt werden." Eine UN-Kommission, die unter anderem sexualisierte Gewalt durch die Hamas am 7. Oktober untersuchen soll, steht UN-Angaben zufolge kurz vor der Beweiserhebung. (Beate Hausbichler, 2.12.2023)