Mann vor Meer
Die Lage und gebrechliche Einrichtung der Welt verleitet dazu, sich zu verschließen. Hans Platzgumer plädiert für eine zuweilen schmerzhafte Offenheit.
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In Anbetracht der ausweglos scheinenden hausgemachten Krisen, mit denen wir Erdbürgerinnen und -bürger uns im Hier und Jetzt zu beschäftigen haben, in Anbetracht des Zustands unseres Planeten und unserer in Kleinteile zerfallenden Gesellschaft, angesichts der immer lauter schreienden Ungerechtigkeit und Engstirnigkeit, die mich in direkter wie medialer Umwelt umgibt, kommen mir die Tränen. Diese Zustände sind nicht zu ertragen. Ich bin den Tränen nahe, ich möchte weinen – aber: Ich tue es nicht. Mir ist zum Weinen zumute, aber ich breche nicht in Tränen aus.

Flucht vor Krieg und Not

Das Leid von 114 Millionen Menschen, die sich derzeit auf der Flucht vor Krieg und Not befinden, oder von Abermillionen, die in einer menschengemachten Hölle ausharren, sowie der Zynismus, mit dem vielerorts auf sie reagiert wird, gehen mir nahe. Doch geht es mir nicht tief genug unter die Haut, dass meine Tränen fließen?

Es ist mir bewusst, dass meine Tränen niemandem helfen würden. Dennoch wären Tränen aus Wut und Verzweiflung ein Indiz dafür, dass ich ehrlich Anteil nehme am Schicksal der Leidtragenden, von dem ich in meinem konsumistischen Lebensstil, den ich seit Jahrzehnten pflege, teils sogar profitiere. Ich weiß von der immer steileren Schieflage der Welt, vom nicht aufhörenden Auseinanderklaffen der Schere zwischen Gewinnern und Verlierern unseres Wirtschaftssystems, ich weiß von der nicht enden wollenden Ausbeutung und Unterdrückung, von Rassismus, Sexismus, Paternalismus und Populismus, von Antisemitismus, Islamophobie, Xenophobie, Misogynie, ich durchschaue mehr Mechanismen, Lügen und Heuchelei, als mir lieb ist.

Frontenbildung

Doch meine Tränen fließen nicht. Ich beklage die fehlende Empathie, die zunehmend unsere Gesellschaft auseinanderreißt – und zugleich scheint es auch mir an Mitgefühl zu mangeln. Mit Schrecken beobachte ich die voranschreitende Polarisierung und Frontenbildung, sehe, wie rücksichtslos Menschen inzwischen miteinander umgehen – und werde selber rücksichtsloser. Ich deute unseren rohen Umgangston als beginnende Barbarei und habe ihn mir mittlerweile teils selber angewöhnt. Habe ich begonnen, mich zu verschließen?

Ich überlege, wann ich das letzte Mal geweint habe. Kinder weinen mehrfach täglich. Meine Tochter gab irgendwann zu, bewusst die Tränen spielen zu lassen. In meiner eigenen Kindheit hieß es noch aberwitzig: Indianer weinen nicht. Doch Kind bin ich schon lange nicht mehr. Ich erinnere, aus körperlichen Schmerzen heraus geweint zu haben. Der Bandscheibenvorfall vor Jahren. Der Schmerz fuhr unfassbar tief in mich hinein, er erfüllte meine gesamte Existenz. Da schossen mir Tränen in die Augen. Doch das sind nicht jene Tränen aus Empathie, die ich meine. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass mechanisch ausgelöste Tränenflüssigkeit chemisch anders zusammengesetzt ist als emotional entstandene. Sie besteht nur aus Wasser, Proteinen, anorganischen Substanzen und Kohlenhydraten, ihr fehlen die ansonsten zusätzlich vorhandenen Pheromone, die Botenstoffe, die der Chemokommunikation dienen.

Abstumpfungen

Ist diese Signalübertragung eines äußeren Reizes auf meine Zellen im Lauf der Zeit verloren gegangen, diese Erzeugung eines Mitgefühls nicht bloß in meiner Gedankenwelt, sondern in meinem Organismus? Bei meiner Suche nach den eigenen Tränen zählt nicht die physische Verletzung, die mich aufheulen lässt. Es geht darum, ob ich zu abgestumpft bin, um wahrhaft Anteil zu nehmen an der Situation eines Mitmenschen. Besitze ich überhaupt die Fähigkeit, mich in andere hineinzuversetzen? Und inwieweit besitzen es andere?

Bricht Uno-Generalsekretär António Guterres oft in Tränen aus? Es ist kaum vorstellbar, dass er es nicht tut. Seit knapp sieben Jahren setzt er sich für die Erhaltung einer Mindestmenschlichkeit ein, versucht, vorbehaltlos zu bleiben, begibt sich mitten in die Krisenherde, dorthin, wo die Opfer der Klimakatastrophen, Seuchenausbrüche oder kriegerischen Konflikte ausharren, dorthin, wo das Leid am größten ist.

Wie hält er das aus? Ich, obwohl ich die Höllen nur aus der Ferne kenne, schiebe bereits einen Riegel der Gleichgültigkeit zwischen mich und die Welt, weil es mir zu viel ist. Wie kann er sich trotz all der Gräuel, mit denen er in Kontakt kommt, trotz aller Anfeindungen, denen er sich aussetzt, weiterhin möglichst offen halten?

Humanistischer Maßstab

Ich setzte das Weinen als Ausdruck einer emotionalen Überwältigung als humanistischen Maßstab an, auch wenn es ohne eigentlichen Grund ganz gekünstelt gelingen kann. Von wegen "Tränen lügen nicht". Betroffenheit kann sich jeder Mensch mit performativen Talenten als Showeffekt antrainieren. In meiner Beschäftigung als Theaterkomponist habe ich ständig mit Schauspielerinnen und -spielern zu tun. Sie haben auf der Schauspielschule gelernt, auf Abruf das Wasser in die Augen schießen zu lassen.

Dass diesem Wasser womöglich keine chemischen Botenstoffe beigemengt sind, spielt in ihrem Metier keine Rolle. Sie spielen eine Szene und stellen sich dabei das für sie persönlich schlimmstmögliche Ereignis vor, beispielsweise den Unfalltod eines Geschwisterteils, sie imaginieren dies so stark, dass es, auch wenn es reine Vorstellung ist, in diesem Moment für sie echt wird. Sie spielen mit den eigenen Gefühlen, spielen sich selbst etwas vor, damit sie für das Publikum spielen können.

Innere Bilder

Laut Schiller ist der Mensch "nur da ganz Mensch, wo er spielt". Das mag stimmen, das ist faszinierend, aber professionelles Weinen ist nicht, was ich an mir vermisse. Ich beobachte bei Theaterproben, wie ein sich in Tränen auflösender Darsteller kurz darauf eine andere Rolle einnimmt. Eine Weile lang merkt man ihm an, dass er sich verausgabt hat, er benötigt einige Minuten, um das Geleistete abzuschütteln. Dann wird klar: Auch wenn ich augenblicklich mit ihm mitgelitten habe, es war nur Oberfläche, nur Schein, Fake, ein Zaubertrick. Es hat nichts mit einem tiefgehenden Verständnis für die Lage zu tun, in die ein Mitmensch geschlittert ist, und hinterlässt keine Spuren.

Aufführung nach Aufführung wird es wiederholt, wird Routine, ist Kunst, höchste Darstellkunst, nicht mehr. Es gleicht nicht dem ungeplanten, unvorhersehbaren Tränenfluss, der mich auf etwas hinweist, das ich nicht in mir vermutet hätte. Etwas, das mir besser als mein Intellekt zeigen kann, was ich für falsch und richtig halte. Etwas, das in der Lage ist, die Abgebrühtheit zu pulverisieren, die durch unentwegt auf mich eingehende Nachrichten und Bilder in mir entstanden ist.

Ich kann noch so viel Wissen anhäufen – solange ich es nicht körperlich begreife, bleibt es Theorie und motiviert mich nicht, aus meiner Komfortzone hinauszutreten. Ich lese die Zahlen. Die offizielle Anzahl der Migranten, die allein im Mittelmeer auf ihrer Flucht in ein besseres Leben seit 2014 gestorben sind, beträgt 28.216. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Bregenz.

Das Grauen unserer Welt

Ich bin entsetzt. Ganz Bregenz ist in weniger als einem Jahrzehnt bei der Überfahrt umgekommen. Ich notiere es, bekomme eine Vorstellung davon, welch Leid, Unrecht, Grauen in unserer Welt vorherrscht. Doch es berührt mich nicht so sehr, dass ich in Tränen ausbreche. Hierfür muss ich weg vom Allgemeinen, hinein ins Persönliche gehen.

Ich muss mir das Schicksal eines dieser 28.216 Todesopfer vorstellen, sagen wir eines jungen Somalis, dessen Familie zwischen Kriegsfronten und Dürren festsitzt. Er wird ausgewählt und so gut wie möglich ausgestattet, um die praktisch unmögliche, menschenunwürdige Reise zu unternehmen, um es allen Widrigkeiten zum Trotz nach Europa zu schaffen, wo er eines Tages vielleicht das nötige Geld erwirtschaften kann, um sich und die Familie am Leben zu halten.

Keine Rettung

Im Geiste begleite ich diesen jungen Mann durch die Wüsten und Steppen, erdulde mit ihm die endlosen Fußmärsche und Busfahrten, wochenlang eingepfercht mit Hunderten anderen, ertrage die sengende Hitze, den Schlafmangel, die Strapazen, Schikanen, Todesängste und Torturen. Vielleicht entgehe ich mit ihm den heute von allen europäischen Regierungen mitgetragenen illegalen Pushbacks der Grenzpolizei.

Irgendwie haben er und ich einen Platz auf einem ebenso illegalen Schlepperkahn ergattert. Ich schlottere aus Angst und Hunger. Ich habe unerträglichen Durst. Und dann kentert unser Boot in der rauen See. Vielleicht ist die italienische Küste in Sichtweite? Ich versuche, so lange es geht, den Kopf über Wasser zu halten. Irgendwann aber verlässt mich die letzte Kraft. Der schier unberechenbare Wille, der mich bis hierhin getragen hat – in diesen Fluten, dieser Finsternis und Kälte kann selbst er nicht weiterhelfen. Ich werde unter die Wasseroberfläche gedrückt, einmal, zweimal strample ich mich noch hinauf, dann sinke ich wie in Zeitlupe hinab. Es gibt keine Rettung, nicht für einen wie mich. Während das Wasser in meine Lunge gespült wird, weiß ich: Ich habe versagt, ich habe es nicht geschafft, alles war umsonst. Mein Sterben hat niemandem geholfen.

Hans Platzgumer
Hans Platzgumer, geb. 1969, ist Musiker und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Großes Spiel" (Hanser).
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Grausames Scheitern

Und dann, zurück in meinem beheizten österreichischen Wohnzimmer, kann ich weinen. Wann, wenn nicht jetzt? Ich habe nicht nur auf kognitiver Ebene die Ungleichheit der Welt verstanden, sondern es mit meinem somatischen und vegetativen Nervensystem erfahren. Diese Erschütterung meiner selbst, das Aufrühren meines Innenlebens kann ich in mir abspeichern. Ich werde dieses Ertrinken nicht vergessen, dieses grausame Scheitern. Ich kann es abrufen, wann und wo immer Ähnliches geschieht. Die Erfahrung der Hilflos- und Ausweglosigkeit des anderen, die ich nun in mir trage, motiviert mich, mich dafür zu engagieren, dass sich solches Unrecht so selten wie möglich wiederholt. Um wahre Motivation zu erlangen, muss ich wahre Tränen in mir zulassen. Sie sind der erste Schritt zur Veränderung – und dass es Veränderung braucht, ist allen klar, die sich bewusst den Ereignissen stellen, welche im Minutentakt auf unseren Medienkanälen festgehalten, dokumentiert und kommentiert werden.

Wie in allen ontologischen Fragen bleibt die unbeantwortbare Frage nach dem Wahren bestehen. Was ist schon wahr, was ist eine zutiefst ehrlich vergossene und Konsequenzen mit sich führende Träne? Schließlich perfektioniert die Filmindustrie Hollywoods seit einem Jahrhundert den möglichst breitenwirksamen dramaturgischen Aufbau ihrer Produktionen. In jedem zweiten Blockbuster finden sich strategisch eingebaute Tränendrüsenmomente, im Drehbuch wird nicht dem Zufall überlassen, wann das Publikum aus Rührung oder Erschütterung zu weinen hat.

Gefühlsduselei

Lichtstimmung, Dialogführung, Kameraeinstellung, Musikuntermalung, alles zielt auf diesen Moment hin. Millionen von Kinobesucherinnen und -besuchern begannen zu weinen, als die krebskranke Jenny in Love Story in Olivers Armen stirbt. Gefühlsduselei? Vielleicht, aber wer hat das zu entscheiden? Ich selbst vergoss bei Alejandro Inárritus Babel in den Nullerjahren unzählige Tränen.

Großes Kino weiß die Tastatur der großen Gefühle virtuos zu spielen. Auch die Literatur beherrscht diese Magie. Zu jedem meiner Romane bekomme ich Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern, dass sie bei gewissen Stellen in Tränen ausbrachen. Es ist ein Privileg der Kunst, Emotionen zu bedienen, und einer der Gründe, warum sie schlicht unverzichtbar ist: Sie ist eine Schulung des Mitgefühls. Einen Roman zu lesen ist eine empathische Übung. Es bringt uns dazu, uns für die Schwierigkeiten fremder Personen zu interessieren. Verlieren wir die emphatischen Fähigkeiten, verliert unsere Gesellschaft jeglichen Zusammenhalt. Im wirklichen Leben, ohne Hilfe Hollywoods, fällt es uns schwerer zu weinen. Wir müssen dennoch versuchen, es zu erhalten. Ein nicht im Vorhinein berechnetes Weinen, eines, das auch keine rein körperliche Reaktion auf das Zwiebelschneiden ist, eines, das vielleicht rührselig, schwächlich, ja lächerlich ist, es signalisiert einen Moment der Verletzlichkeit, einen Riss in unserer Hülle, eine Unperfektheit, also genau das, was uns zum Menschen macht. Es ist der Unterschied zwischen Mensch und Maschine.

Quantenzauber

Womöglich beherrscht auch künstliche Intelligenz bereits die Mechanismen der Tränenerzeugung? Doch ihr Gefühlsausbruch kann nur reproduziertes, zigfach bereits geweintes Weinen sein, neue Tränen aus unzähligen bereits vergossenen, eine technische Meisterleistung, aber so schnell gelöscht wie entstanden, Quantenzauber. Menschliche Tränen ehrlicher Erschütterung sprechen wie jene ehrlicher Erleichterung eine andere Sprache und übermitteln eine viel weiter reichende Botschaft. Die Mutter eines aus der Geiselhaft der Terroristen befreiten Kindes vergießt sie gleich wie die Mutter eines aus dem zertrümmerten Gazastreifen entkommenen Zivilisten.

In beiden Fällen, unabhängig von den Konfliktfronten oder politischen Verwerfungen, ist das nicht zurückzuhaltende Weinen die Bezeugung des Menschseins. Es zeigt, dass wir im Grunde alle gleich sind. Wir alle wollen überleben, in Würde leben können. Dies ist unser aller Recht – auch wenn es so vielen nicht gewährt wird. In den Tränen treffen wir uns. Sie verbinden uns, sie sind Startpunkt eines Weges zurück aus Hass, Gewalt und Wut.

Wo die Tränen uns erreichen, sind wir Mitmenschen, teilen wir die Überforderung unserer Existenz mit anderen. Das Weinen holt uns aus der Kälte und Härte, in der sich unsere Gesellschaft im Kaltlicht ihrer Touchscreens zu verirren droht, zurück in die Menschlichkeit. Es ist Ausdruck des Humanen. Behalten wir es also bei, weinen wir, wenn wir können, weinen wir, solange wir noch können. Die Tränen sind Tropfen, die die Mauer aushöhlen, die wir beständig in uns errichten. Weinen und versuchen wir, die Ursache unserer Tränen zu eruieren, damit wir diese in Folge eliminieren können. (Hans Platzgumer, 3.12.2023)