Nepentes Kannenpflanze
Die indische Kannenpflanze Nepenthes khasiana ködert mit ihrem süßen Nektar Insekten. Vermutlich werden sie gleich auch noch gelähmt.
Wikimedia / gemeinfrei

Fleischfressende Pflanzen gedeihen an Orten, an denen viele andere Pflanzen nicht wachsen können. In vielen Böden gibt es eigentlich zu wenig Stickstoff für "normales" Grünzeug. Karnivoren wie sie kommen aber gut zurecht: indem sie ihren Nährstoffbedarf durch das Verspeisen kleiner Tiere decken, die ihnen in die Falle gehen.

Zu besonders effizienten Fleischfressern unter den Pflanzen gehören die Kannenpflanzen der Gattung Nepenthes, die Insekten auf verschiedene Weise anlocken: durch Kohlendioxid, durch einen süßlichen Nektar und weitere Köder. Das ist alles gut untersucht. Doch ein Team um den indischen Pflanzenchemiker Sabulal Baby hat nun bei der in Indien beheimateten Kannenpflanze Nepenthes khasiana einen weiteren raffinierten Trick entdeckt.

Laut einer neuen Studie, die bislang nur als noch nicht fachbegutachteter Preprint auf der Plattform Biorxiv veröffentlicht wurde, enthält der süße Nektar ein starkes Nervengift, das die potenziellen Opfer am Rande der Kanne aus dem Gleichgewicht bringen kann. Das ist das erste bekannte Beispiel für einen Nektar, der sowohl als Köder als auch als Gift wirkt.

Die vielen Tricks der Kannenpflanze

Sabulal Baby erforscht seit mehr als einem Jahrzehnt fleischfressende Pflanzen, die seiner Meinung nach die "die einzigartigsten Lebensformen auf der Erde" sind, wie er im Interview mit "Science" sagt. Er und seine Kollegen am Jawaharlal Nehru Tropical Botanic Garden and Research Institute in Kerala hatten zuvor bereits entdeckt, dass die Ränder der indischen Kannenpflanze Nepenthes khasiana fluoreszieren und dass frisch geöffnete Kannen Kohlendioxid ausstoßen – alles Eigenschaften, die Insekten anziehen.

Kannenpflanze
Die vielen tödlichen Tricks der Kannenpflanze.
Sabulal Baby et al. 2023

Da sie wussten, dass die Pflanzen auch Nektar in unmittelbarer Nähe des Kannenrands produzieren, beschlossen sie, diese Substanz genauer zu untersuchen. Dass der hohe Zuckergehalt der Flüssigkeit Ameisen anlockt, war bekannt. Die Analysen brachten aber eine Überraschung: Der Nektar enthielt Isoshinanolon – eine Verbindung, welche die Aktivität eines Enzyms namens Acetylcholinesterase beeinträchtigt, das den Aufbau des Neurotransmitters Acetylcholin zwischen Neuronen verhindert. Zu viel Acetylcholin führt zu Muskelkrämpfen, Schwäche, verschwommenem Sehen und Lähmungen. (Isoshinanolon findet sich übrigens auch in Sonnentau, einem bei uns heimischen Karnivoren.)

Bei den in der Kannenflüssigkeit ertrunkenen Ameisen zeigte sich in den Geweben fast keine Acetylcholinesterase-Aktivität. Bei Ameisen, die auf der Außenseite der Pflanze eingesammelt wurden, war diese Aktivität stärker ausgeprägt. Dies deutet darauf hin, dass der Nektar die Fortbewegung der Insekten hemmt, wodurch sie leichter in die Falle tappen. Der Nektar ist ein "giftiger Köder", sagt Sabulal Baby.

Restzweifel bei Fachleuten

Von "Science" befragte Forschende, die nichts mit der Studie zu tun hatten, zeigten sich nicht restlos überzeugt. "Das Ergebnis ist faszinierend", sagt die aus Deutschland stammende Ökologin Ulrike Bauer von der University of Bristol, die sich seit fast zwei Jahrzehnten mit Nepenthes-Pflanzen beschäftigt. "Der Nektar ist wirklich lange Zeit vernachlässigt worden", sagt sie, und die Vorstellung, dass er Verbindungen enthält, die Insekten "betäuben", ist für sie plausibel. Dennoch hätten sie und andere Kollegen gerne klarere Beweise dafür, dass das Gift aus dem Nektar stammt – und dass es wirklich für die tödlichen Abstürze der Ameisen verantwortlich ist.

Es ist nicht völlig abwegig, dass der Nektar die Insekten zum Vorteil der Pflanze manipuliert, meint auch Martin Heil, ein Experte für Ameisen-Pflanzen-Interaktionen und extrafloralen Nektar am Mexican Center for Research and Advanced Studies des National Polytechnic Institute. Allerdings hält er die vorgelegten Daten – dass ertrunkene Ameisen eine hohe Acetylcholinesterase-Hemmung aufwiesen – bestenfalls für Indizien. Er würde gerne Experimente sehen, bei denen lebende Ameisen vor und nach dem Verzehr des Nektars untersucht werden, um sich davon zu überzeugen, dass die Flüssigkeit tatsächlich Auswirkungen auf den Beutefang hat.

Ulrike Bauer freilich wäre nicht völlig überrascht, wenn dem so wäre. Kannenpflanzen haben "eine so erstaunliche Vielfalt an Tricks, um Insekten zu fangen. Der giftiger Nektar wäre nur einer von vielen." (tasch, 3.12.2023)