William Kentridge versammelt in
William Kentridge versammelt in "Oh to Believe in Another World" neben Stalin und Lenin auch den DichterWladimir Majakowski und den Komponisten Schostakowitsch selbst.
Courtesy of Kentridge Studios

Es kommt nicht von Ungefähr, dass in der Zehnten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch so oft das musikalische Monogramm des Verfassers auftaucht. Wenn sich die Tonfolge D-Es-C-H im Finale zum mächtigen Unisono aufbäumt bevor die Symphonie jubelnd schließt, steckt eine Botschaft zwischen den Notenzeilen. Sie lautet im Jahr 1953, kurz nach Stalins Tod: Seht her, ich bin noch da! Schostakowitsch, erst für seine Musik als Staatskünstler gepriesen, dann als Volksfeind punziert, hat den großen Terror des Diktators überlebt – anders als abertausende seiner Landsleute.

William Kentridge, Schöpfer atmosphärischer Kunstwerke und Bewegtbilder, hat sich in einem Projekt auf dieses Orchesterstück eingelassen: Sein Trickfilm Oh to Believe in Another World begleitet das Meisterwerk von der ersten bis zur letzten Note. Der gemeinsame Abend mit dem Luzerner Sinfonieorchester war am Samstag im Wiener Konzerthaus zu erleben. Kentridge widmet sich in dem Film jedoch nicht nur der wechselhaften Karriere eines Komponisten, sondern versucht insgesamt eine Umbruchszeit zu porträtieren: Die Verwandlung der UdSSR vom Land der scheinbar unbegrenzten Proletariermöglichkeiten in einen Massenkerker. Darum bevölkern auch mehrere Hauptdarsteller den Film: Lenin und sein schnauzbärtiger Nachfolger tauchen ebenso auf wie Schostakowitsch und Wladimir Majakowski, der Avantgarde-Poet mit der beispielhaften Vita: In frühen Sowjetjahren wohlgelitten, trieb ihn die Stalin-Ära in den Suizid.

Tanzender Bolzenschneider

Sie alle sind staksende Puppen in einem verlassenen Ausstellungshaus aus Pappe, halten diesen Museumsbetrieb als agile Selbstdarsteller im Alleingang aufrecht. Die Laune scheint hier anfangs gut: Bolzenschneider tanzen eine Art futuristisches Ballett, Lenin schwingt sich zu großen Rednergesten auf, eingeblendete Majakowski-Zitate befeuern die Aufbruchstimmung. Doch schon bald erhält dieses Treiben, begleitet vom aggressiven Scherzo, einen düsteren Beigeschmack, wirken Stummfilmbilder historischer Aufmärsche bedrohlich. Ab dem dritten Satz fuchtelt die Stalin-Puppe – gleichermaßen drollig wie diabolisch anzusehen – mit einer Pistole herum, spritzt im Finale salvenweise Tinte auf Porträtfotos, löscht unliebsame Gesichter aus. Ein Furor, der passgenau auf die Symphonie abgestimmt ist: Wenn die Musik im großen D-Es-C-H-Moment gipfelt, enden die Gräuel. Eine charismatische Leinwandarbeit, die den Energiefluss der Musik kunstvoll für ihre Zwecke anzapft.

Still aus Kentridges
Still aus Kentridges "Oh to Believe in Another World".
Courtesy of Kentridge Studios

Das Luzerner Sinfonieorchester begeistert zudem unter Dirigent Michael Sanderling mit einer Höchstleistung: So lyrisch im Kopfsatz, stahlwuchtig im Scherzo, farbenreich im Allegretto und freudenstrahlend im Finale hat man dieses Meisterwerk vielleicht seit Mariss Jansons nicht mehr gehört. (Christoph Irrgeher, 3.12.2023)