"Das Leben bekommt einen magischen Glanz"
Franz Zauritz

Helge Timmerberg wartet schon. Im Café Engländer thront der 71-Jährige gleich neben der Bar, er wirkt so nüchtern wie ausgeschlafen. Am Abend zuvor hat der deutsche Reiseautor im Café 7Stern seine Kifferbekenntnisse vorgetragen. Für sein Buch Joint Adventure. Eine Reise in die Welt des Cannabis ist Timmerberg einmal mehr den Drogen hinterhergereist – aus gutem Grund. Anfang kommenden Jahres wird Cannabis in Deutschland legalisiert.

STANDARD: Sie konsumieren seit Jahrzehnten Drogen. Ihr letzter Joint?

Timmerberg: Gestern Abend.

STANDARD: Warum kiffen Sie abends?

Timmerberg: Ich mache das nicht nach Uhrzeit. Aber tagsüber kann ich Cannabis nicht gebrauchen, der Tag ist für die Tat, der Abend für die Träume da. Mittlerweile weiß ich, dass diese Droge der Entspannung dient. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass im zentralen Nervensystem der Sympathikus und sein Gegenspieler, der Parasympathikus, sitzen. Ersterer sorgt dafür, dass man auf Zack ist. Gäbe es nur ihn, würden wir schnell im Burn-out landen. THC aktiviert nun den Parasympathikus. Soll ich einen Witz dazu erzählen?

STANDARD: Nur zu!

Timmerberg: Ein Kiffer, ein Kokser und ein LSD-Freak sitzen im Knast und planen den Ausbruch. Der Kokser sagt: Wir gehen durch die Wand. Der LSDler: Wir fliegen obendrüber! Der Kiffer erwidert: Alles super Ideen, aber lasst uns das morgen machen.

STANDARD: Der Spritzer zu Mittag ist im Gegensatz zum Joint in Österreich eine Selbstverständlichkeit...

Timmerberg: Die seit hundert Jahren andauernde Gehirnwäsche, dass Cannabis eine furchtbare Droge sei, hat sich weitestgehend durchgesetzt. Das hat letztens der zweite Bürgermeister von München zu spüren bekommen, als er das Oktoberfest als die "größte offene Drogenszene" bezeichnet hat. Die Wiesn-Wirte entgegneten empört, Bier mache die Leute fröhlich, Alkohol sei keine Droge. Dabei ist das Blödsinn. Die Wirkung der Substanzen ist nur sehr unterschiedlich. Alkohol enthemmt und macht mutig. Cannabis bewirkt das Gegenteil, es sensibilisiert. Alle Entgleisungen, für die ich mich rückblickend schäme, sind in Zusammenhang mit Alkohol oder Koks passiert.

STANDARD: Unser Umgang mit Alkohol ist also verlogen?

Timmerberg: Weltweit sterben jährlich drei Millionen Menschen an Alkoholvergiftung. An Cannabisvergiftung niemand. Die viel gefährlichere Droge wird bejubelt. In Marokko oder Indien ist übrigens Cannabis die gesellschaftlich akzeptierte, Alkohol wird verachtet.

STANDARD: Erinnern Sie sich an Ihren allerersten Joint?

Timmerberg: Ja, klar, das erste Mal im Sommer 1968 war ein echtes Erlebnis. Ich war 17, mein Lehrlingsdasein in Bielefeld verdammt eintönig, ich hatte keine Idee, was ich will im Leben. Im Amsterdamer Paradiso habe ich dann ein Konzert der Band Steppenwolf besucht. Mit einem Zug erschien alles viel inspirierter.

STANDARD: Hat die Wirkung mit den Jahren abgenommen?

Timmerberg: Natürlich – Cannabis ist eine Gewohnheitsdroge. Für das Buch habe ich einen Monat lang aufgehört. Der erste Zug nach 29 Tagen war phänomenal. Ich bin für die Legalisierung. Den richtigen Konsum aber muss man erlernen. Der Entzug ist nicht ohne. Man hat in der ersten Woche Albträume und das Gefühl, ein Loch im Bauch zu haben – wie beim Verzicht auf Alkohol fehlt einem etwas. Ein Arzt hat mir erklärt, dass es sechs Wochen braucht, damit die Gehirnzellen wieder rein wie die eines Babys sind. Am schlimmsten sind die Einschlafschwierigkeiten, Cannabis ist ein sehr gutes Schlafmittel.

STANDARD: Die Joints sind Ihre Schlaftabletten?

Timmerberg: In etwa. Ich bin vorbelastet, meine Mutter konnte ohne Tabletten nicht einschlafen.

STANDARD: Würden Sie den Cannabis-Konsum als Rausch bezeichnen?

Timmerberg: Man nimmt alles intensiver wahr. Das Leben bekommt einen magischen Glanz. Alle Sinne werden intensiviert – und ich werde kreativer. Als Rausch würde ich das aber nicht bezeichnen. Wenn Sie einen Spritzer trinken, würden Sie das auch nicht als einen solchen bezeichnen, oder?

STANDARD: Warum kiffen Sie beim Schreiben?

Timmerberg: Ich schreibe ohne Cannabis zwar viel schneller, aber eben auch schlechter.

STANDARD: Das hört sich an wie eine faule Ausrede...

Timmerberg: In den vergangenen vier Jahrzehnten wurden meine nüchternen Texte immer zurückgeworfen. Meine schreibenden Vorbilder hatten übrigens alle eine Arbeitsdroge. Stephen King war auf Koks, Bukowski auf Bier, Hesse hat gekifft.

STANDARD: Ist ein Leben ohne Drogen langweiliger?

Timmerberg: Wer lebt denn ohne Drogen? Ohne Alkohol, ohne Cannabis, ohne Kokain, ohne Psychopharmaka, ohne Beruhigungsmittel? In Deutschland nehmen 2,2 Millionen Menschen allein Benzos. Wer ist wirklich abstinent?

STANDARD: Die "Generation Sober" verzichtet auf Substanzen.

Timmerberg: Viel Glück, schauen wir mal, was diese Generation mit 30 oder 40 macht. Gleichzeitig ballern sich etliche Junge wahnsinnig viel rein. Eigentlich kenne ich genau einen Menschen, der abstinent lebt – und das seit zwei Monaten.

STANDARD: Sie entsprechen vielen Kiffer-Klischees!

Timmerberg: Wie meinen Sie das?

STANDARD: Sie sind männlich und rauchen seit den 1960ern. Ist Kiffen ein Männerding?

Timmerberg: In Marokko habe ich Cannabisbauern besucht. Frauen kiffen in deren Dorf nicht, weil Cannabis als Männerdroge gilt. Ich würde aber infrage stellen, ob das wirklich so ist und ob man das in diesem Fall nicht auch als Diskriminierung verstehen kann. Ich kenne viele Frauen, die kiffen.

STANDARD: Sie behaupten, Kiffer hätten eine andere Aura als Kokser, Trinker und Abstinente. Was unterscheidet sie?

Timmerberg: Koks macht Menschen zu eiskalten Egozentrikern, zu Gierlappen. Die Gefühlsebene wird ausgeschaltet. Man fühlt sich frei und hält sich für unverwundbar. Ich habe selbst zwei Jahre lang gekokst, das hat mir sehr geschadet. Abstinenzler sind mir ein wenig unheimlich, sie haben aber oft unstoffliche Ersatzdrogen wie Macht – oder FKK.

Na, was haben wir denn da?
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STANDARD: In Österreich haben 40 Prozent der jungen Menschen schon einmal gekifft, die Städte werden überflutet von CBD-Shops. In manchen Familien rauchen drei Generationen. Ist das Kiffen in der Mitte der Gesellschaft angekommen?

Timmerberg: Ziemlich sicher. In der Schweiz, wo ich auch lebe, wird viel gekifft. Auch weil in einigen Städten Versuche mit legalem Cannabis gestartet wurden. Die Pilotprojekte wurden lange und gründlich vorbereitet. In vier Kantonen gibt es jetzt Social Clubs, man kann Cannabis selber anbauen und in Apotheken kaufen. Die Droge hat sich weltweit durchgesetzt. In Ländern wie Spanien oder Portugal wird besonders viel gekifft. Nur in Nordkorea wurde die Verbreitung der Droge erfolgreich verhindert.

STANDARD: In Deutschland steht Cannabis vor der Legalisierung, warum ist man in Österreich nicht bereit?

Timmerberg: Man ist hier traditioneller. Auch wenn Gras eine verbreitete Droge ist, habe ich den Eindruck, dass in Österreich mehr getrunken wird. Ein schönes Bierchen ist kein Problem, aber wer Drogen konsumiert, gilt als Suchtgiftler. Die österreichischen Politiker sollten lieber kiffen, statt zu koksen.

STANDARD: Sie behaupten, die Faschisten und die Kommunisten sähen ihre Ideologien vom Cannabis bedroht. Hat Cannabis nur links und rechts Feinde?

Timmerberg: Auch die Pharmaindustrie hat Cannabis lange als Konkurrenz verstanden. Kein Wunder, einige Versuche haben seine positive Wirkung vorgeführt. Als in israelischen Altenheimen Cannabis in Form von Plätzchen verteilt wurde, schliefen die Alten wieder gut, sie hatten Appetit, das Leben machte wieder Spaß. Sie konnten sich viele Pillen sparen. Das weiß die Pharmaindustrie. Aber so langsam sattelt sie um, mit Cannabis lässt sich viel Geld verdienen. Damit knüpft sie an eine Tradition an. Vor dem Verbot Anfang des vergangenen Jahrhunderts gab es in Europa über 100 Cannabismedikamente.

STANDARD: Wann kann ein Joint hilfreich sein?

Timmerberg: Das ist eine individuelle Angelegenheit. Wenn ich mir im Kino bekifft einen halbguten Film ansehe, kann der plötzlich gut sein. Cannabis macht zudem genügsam. Der Kiffer braucht keine Millionen zum Glück – nur Musik, Netflix und das Sonnenlicht. Ein Freund von mir hat während einer Chemo gegen die Nebenwirkungen THC-Tropfen bekommen. Das rauschlose Cannabis CBD soll die Ausbreitung von Krebs ausbremsen, auch bei Corona soll es helfen.

Standard: Wann wird der Cannabis-Konsum zum Problem?

Timmerberg: Wenn er im Leben an erster Stelle steht, man keine Ideen und Ziele hat. Außerdem ist wichtig, den Umgang mit der Droge zu erlernen. Beim Alkohol schauen wir uns von unseren Eltern ab, welche Dosis funktioniert, wann ein Bier oder ein Longdrink passt. Beim Dope sagen Eltern in der Regel nur: Bloß nicht! Auch ich musste dazulernen. Beim natürlichen Marihuana lag der THC-Anteil früher zwischen 0,12 bis 0,15. Bei den Neuzüchtungen heute hingegen bei 0,25 oder 0,30. Ich habe zuletzt in den USA einen Müsliriegel mit THC gegessen, von dem ich paranoid wurde. Jetzt weiß ich, dass ein halber Riegel ausgereicht hätte.

STANDARD: Auf welche Nebenwirkungen könnten Sie noch verzichten?

Timmerberg: Die Empfindsamkeit geht mir auf den Geist. Lästig ist auch die Organisation. Ich muss herumtelefonieren und mit der U-Bahn zu meinem Dealer fahren. Im Ausland auf Reisen ist es besonders schwierig. Dann trinke ich stattdessen Wein und habe am nächsten Tag einen Kater.

STANDARD: Unter welchen Voraussetzungen sollte Cannabis legalisiert werden?

Timmerberg: In Kanada oder Malta müssen THC-Verpackungen so unsexy wie Butterpackungen in der DDR aussehen. Einen solchen Umgang finde ich gut. Der Konsum stieg in diesen Ländern nach der Legalisierung zwar an, fiel dann aber unter das Ausgangsniveau. Aggressive Werbung für Cannabisprodukte wie in Kalifornien lehne ich ab.

STANDARD: Was haben Sie Ihren Kindern im Umgang mit Drogen vermittelt?

Timmerberg: Meine Kinder konnten mir alles erzählen, ich war ziemlich tolerant. Sie haben alle mal gekifft, aber nicht wegen mir. Jugendliche richten sich nach ihrem Freundeskreis, nicht den Eltern. Im Leben meiner erwachsenen Kinder spielt Cannabis keine Rolle mehr. Die Legalisierung wird sicher nicht bewirken, dass nun alle Jugendlichen Gras rauchen.

STANDARD: Bei kiffenden jungen Menschen sollen versteckte Psychosen ausgelöst werden...

Timmerberg: Wenn, dann sind das gesamtgesellschaftlich gesehen Einzelfälle. Ich habe übrigens auch dazugelernt. Früher habe ich vor den Augen meiner Kinder gekifft – das würde ich heute nicht mehr tun. Bei meinem Enkel werde ich das anders halten. (RONDO, Anne Feldkamp, 11.12.2023)

Dieser Artikel stammt aus dem RONDO Exklusiv zum Thema Rausch.

Helge Timmerberg, Joint Adventure – Eine Reise in die Welt des Cannabis, € 22, 256 Seiten, erschienen im Piper-Verlag.
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