Franz Kafka, der stets knabenhaft wirkende Autor und Beamte der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt in Prag, hier etwa 1920 aufgenommen.
Franz Kafka, der stets knabenhaft wirkende Autor und Beamte der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt in Prag, hier etwa 1920 aufgenommen.
imago images/Sovfoto \ UIG

Seine dreibändige Biografie hat das Verständnis für Franz Kafka (1883–1924) in völlig neue Bahnen gelenkt: Germanist Reiner Stach konstatiert noch vor Beginn des Kafka-Jahres 2024 neues Interesse am Werk des Pragers. Er selbst fiebert der Kafka-Serie von David Schalko und Daniel Kehlmann entgegen, die auf Basis seiner Biografien im März 2024 auf ORF und ARD läuft.

STANDARD: Als Schüler war man vor 40 Jahren mit Kafka auf der sicheren Seite. Man konnte die Vieldeutigkeit seiner Schriften herausarbeiten, ihn zum Talmudisten erklären oder zum Propheten des Totalitarismus. Heute wird er von niemandem vereinnahmt. Ist Kafka "ausgeforscht"? Ist er uns ein Stück weit egal geworden?

Stach: Es wäre eine naive Vorstellung zu glauben, ein Autor von Kafkas Rang würde langweilig, bloß weil ihn tausende Wissenschafter philologisch untersucht haben. Als ich mein Abitur machte, wurde Kafka noch gelesen, um den einen Generalschlüssel zu finden. Davon sind wir längst weg. Heute steht die Suche nach dem ästhetischen Genuss im Vordergrund. Was macht es so attraktiv, ihn zu lesen? Trotz aller Rätsel, die er aufgibt, besitzt er eine starke Anziehungskraft.

STANDARD: Für Kafka gilt nicht das Brecht-Wort von der "Wirkungslosigkeit der Klassiker"?

Stach: Kafka gehört zu den ganz wenigen Klassikern, bei denen sich jede hinzukommende Generation von Lesern neu provoziert fühlt. In früheren Jahrzehnten hat man sehr stark auf die albtraumhaften Elemente in Kafkas Werk fokussiert. Das hing mit politischen Deutungen zusammen, die ihn – ohne dass er es gewusst hätte – zum Propheten erhoben, zum Autor, der den Totalitarismus vorhersah. Auch davon kommt man weg, weil man heute die ästhetischen Facetten stärker betont.

STANDARD: Die man früher überlesen hatte?

Stach: Man bemerkt jetzt die Züge des abgrundtief Komischen, die starke Ähnlichkeit mit Beckett. Die Betonung des Prophetischen hing mit dem Existenzialismus zusammen, mit religiösen Deutungen. Darüber sind wir hinweg. In den letzten rund zehn Jahren ist mir aufgefallen, dass die Kafka-Beschäftigung in anderen Medien stark zugenommen hat, besonders im Theater. Die Zahl der Kafka-Inszenierungen ist schlicht überwältigend. 2024 werden wir einer ganzen Reihe von filmischen Auseinandersetzungen begegnen.

STANDARD: Ist das performative Element in Kafkas Literatur angelegt? Oder erzählt diese Form der Aneignung nicht hauptsächlich etwas über uns?

Stach: Das Image von Kafka vor 40 Jahren lautete: ein Autor für Intellektuelle. Das nährt die Vorstellung: Was soll man nach tausend germanistischen Befassungen noch aus ihm herausholen? Doch das ist vollkommen naiv. Kafka schrieb nicht für Germanisten. Neue Generationen von Leserinnen und Lesern fangen jedes Mal wieder bei null an. Die haben neue Medien wie ihre Blogs, mit denen sie sich dem Autor annähern. Diese Entwicklung hält seit 15 Jahren unvermindert an.

Reiner Stach gibt jetzt eine kommentierte Kafka-Ausgabe bei Wallstein heraus.
Reiner Stach gibt jetzt eine kommentierte Kafka-Ausgabe bei Wallstein heraus.
imago/Rudolf Gigler

STANDARD: Sie haben Kafka lebensweltlich verortet: den Hypochonder, den Selbstzweifler, den Junggesellen. Kafka hatte lebensreformerische Züge. Stößt das nicht heute auf das Interesse der Empfindsamen?

Stach: Die neue Empfindlichkeit erscheint mir gelegentlich etwas unreflektiert, ganz im Gegensatz zu derjenigen Kafkas. Bei ihm trägt sie gelegentlich sogar selbstironische Züge, ein Aspekt, der bei der neuen Generation komplett fehlt. Kafkas Kampf darum, authentisch zu bleiben, ist etwas, was jungen Lesern sehr gefällt. Er hat einen Weltkrieg durchgemacht, eine schwere Krankheit, die Tuberkulose. Er besaß unglaublich wenig Zeit. Seine kreative Hochphase währte von 1912 bis zu seinem Tod 1924. Es ist unfassbar, was er unter diesen Umständen zustande gebracht hat.

STANDARD: Dürfen solche Umstände auf das Verständnis einer jungen Generation stoßen?

Stach: Heute ist einfach auch der Interpretationsdruck gesunken. Ein weiterer Punkt: Die Wirkung von Kafka nimmt dramatisch zu. Das hängt meines Erachtens mit dem aktuellen Zustand der Welt zusammen. In seinen Dichtungen, etwa den Romanen, mangelt es nicht an Informationen. Helden wie der sprichwörtliche "Josef K." erhalten Informationen, auch sehr ausführliche. Nur ist die Informationssumme am Ende null, weil sich der Sinn hinter dem Ganzen nicht erschließt. Denken Sie an den Process: Was nützt es Ihnen, wenn Sie die Funktion der Prozesshierarchien kennen, wenn Sie nicht wissen, was im Gesetz eigentlich drinsteht? Dieses Gefühl haben viele Menschen heute. Die Informationsfülle ist absolut überwältigend. Nur hat man das Gefühl, keiner weiß mehr, wohin der ganze Laden treibt. Wir alle haben das Gefühl, dass wir in einem steuerlosen Fahrzeug sitzen.

STANDARD: Was hat es mit Lachkünstler Kafka auf sich? Vor vielen Jahren war einem nach Kafka-Lektüre vor allem trübsinnig zumute.

Stach: Wenn Sie Die Verwandlung zum ersten Mal lesen und unter 20 Jahre alt sind, so ist das zunächst einmal nur schrecklich. Ich habe mit Schülern über diesen Albtraum gesprochen. Manche wollten danach keinen Kafka mehr lesen. Lesen Sie den Text dagegen als erfahrenerer Leser ein zweites oder drittes Mal, springt Ihnen die Komik sofort ins Auge. Ein Mensch wacht als Käfer auf, und sein erster Gedanke ist: Herrgott noch mal, jetzt wird es aber knapp, dass ich meinen Zug erreiche! Leute, die sich Illusionen über ihre eigene Lage machen, sind immer komisch.

STANDARD: Was von Kafka ist am besten als Einstieg geeignet?

Stach: Einem Jugendlichen, der noch nicht viel Leseerfahrung besitzt, würde ich auf keinen Fall In der Strafkolonie hinlegen. Als Lehrer würde ich mit Bericht an eine Akademie anfangen, in dem ein Menschenaffe von seinem Schicksal erzählt. Das verstehen auch junge Menschen sehr gut. (Ronald Pohl, 5.12.2023)