Literatur Ungarn Österreichischer Staatspreis
László Krasznahorkai erzählt über zu Tode Geängstigte und über Sonderlinge – in Wahrheit über uns alle.
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Über die Umstände seiner näheren Zukunft ist sich der Held der Erzählung Richtung Homer nur allzu bewusst. Sollten die ihn verfolgenden Mörder ihn erwischen, wäre es im Nu um ihn geschehen. Er würde erdrosselt ("von hinten mit einem Draht"), das Herz würde ihm durchbohrt, die Eingeweide würden ihm "mit einem Stiefelabsatz buchstäblich herausgetreten".

Und weil es für "ihn", den namenlosen Helden László Krasznahorkais, kein Entrinnen gibt, verfängt auch kein Hinweis, um wen genau es sich bei seinen ominösen Peinigern handeln könnte. Erinnerungswürdig sind ihre Gesichter allesamt nicht. Zweckdienlicher erscheint es, die "flüchtigen Blicke" beliebiger Mitmenschen aufzufangen: ihnen die "ganze Geschichte" (wessen?) abzulesen. Die Nennung plausibler Gründe, die Annahme einer Versündigung, einer nicht näher bezeichneten Schuld, sind in dieser Anthropologie des Grauens ohnehin nicht vorgesehen.

Ganz leicht ließe sich Krasznahorkai, der heute in Triest lebende Ungar, in die Ahnengalerie der Finsterlinge einreihen. Irgendwo zwischen Franz Kafka und Samuel Beckett, so man das haltlose Gelächter mitdenkt, das die beiden gelegentlich erschütterte. Krasznahorkais Prosa lebt von der Perspektivierung der oder des Einzelnen. Drei Erzählungen sind in dem Band Im Wahn der Anderen versammelt: dreierlei Arten, der Kraft der eigenen Einbildung auf den Leim zu gehen.

Senkfußplage

Wer derlei Schattenmalerei für den Ausdruck paranoider Gesinnung hält, der hat das Einsetzen der Apokalypse ganz einfach verschlafen. Oder er kapiert nicht, dass "sie", obwohl er paranoid ist, längst hinter ihm her sind. In der zentralen Erzählung Kleinstarbeit für einen Palast – sie bildet die Mitte des Triptychons – lebt ein schrulliger Bibliothekar, geplagt von Senkfüßen, gedemütigt vom geistlosen Entleihwesen, in Downtown Manhattan. Diesmal ist er es, der sich an die Spuren anderer – "großer Geister" – heftet.

Er schreitet die Gehwege von Herman Melville ab, er überblendet sie gewissenhaft mit den Skizzen und Memoranden des US-amerikanischen Architekturexzentrikers Lebbeus Woods. Er findet sogar Zeit, den begnadeten Dichter-Trinker Malcolm Lowry (Unter dem Vulkan) in das Geschehen einzublenden. Die Pointe steckt in der Verkleinerung. Sich selbst nennt dieses Faktotum "melvill".

Doch wohin gelangt einer, der sich nach Maßgabe der eigens für ihn bestellten "Plattfußeinlagen" schnurgerade ins Nichts bewegt? Die Epoche notorischer Verängstigung, der Kafka-Käfer und Justizapparate, ist offiziell niemals für beendet erklärt worden. Sie hat sich bloß verzettelt. Die Vorladungsschreiben ihrer anonymen Gerichtshöfe werden heute zwischen Buchdeckel gepresst, ihre Adressaten sind die vertrauensvollen Leserinnen und Leser. Im Wahn der Anderen sollte so etwas wie Pflichtlektüre sein. 2021 erhielt Krasznahorkai völlig folgerichtig den Österreichischen Staatspreis für Literatur zuerkannt.

Protokolle des Zerfalls

Seit seinem Erstlingsroman Satanstango (1985) schreibt Krasznahorkai fort an seinen Zerfallsprotokollen. Der aktuelle Band basiert auf einer Anzahl Zeichnungen Max Neumanns, Schattenkürzel kreatürlicher Not, die das Leid und die überschießende Kraft aller Lebewesen miteinschließen. Weiterhin bleibt Krasznahorkai der geschworene Feind jeder vorschnellen Setzung des Punktes. Seine Delirien wälzen sich in langen Satzreihen voran. Dieser unablässige Strom wirft jeglichen Einspruch, jeden Appell an die Gnade des Innehaltens, von vornherein nieder.

Wem das noch nicht hinreicht, der kann sich jedes Unterkapitel des Odysseus-Stückes von einem Schlagzeugsolo eigens untermalen lassen. Die entsprechenden QR-Codes sind per Smartphone abzurufen und pflastern die Erzählstrecke. Sie machen dem ohnedies zu Tode gehetzten Flüchtling obendrein noch Beine. (Ronald Pohl, 6.12.2023)