Bernstein
Bradley Cooper hat Leonard Bernsteins exaltierte Pose minutiös studiert,
AP/Jason McDonald

Eine Filmbiografie über Leonard Bernstein? Der Titel Maestro von Bradley Coopers zweiter Regiearbeit nach A Star Is Born suggeriert, es würde sich tatsächlich um die Nahsicht auf eine Jahrhundertkoryphäe handeln. Damit träte der Film allerdings gegen ein imaginäres Museum voller Porträts und ikonischer Szenen an, das der musikalische Universalgelehrte – nie öffentlichkeitsscheu – selbst lustvoll mitgestaltet hat.

Lenny, das Genie zwischen Klavier, Komponierstube und Konzertsaal, war der Weltumarmer, war der Inbegriff des emphatischen Humanisten, Ikone der verschwenderischen Herzlichkeit und also nie unnahbar wie Herbert von Karajan, der andere Superstar der Klassik.

Als Dirigent suchte Bernstein, Sohn jüdischer Einwanderer, im Schweiße seines Angesichts so kenntnisreich wie exaltiert die Wahrheit in der Ekstase. Geltungsdrang verschmolz beim US-Amerikaner mit Gestaltungsenergie und bescherte etwa dem Werk von Gustav Mahler eine Renaissance.

Musik im Innersten

Er war tendenziell ein Zerrissener. Statt mehr zu komponieren, wirkte Lenny auch noch pädagogisch. Die TV-Show nannte sich Young People’s Concerts, und ein Millionenpublikum sah, wie profund und unterhaltsam Bernstein vermittelte, was Musik im Innersten zusammenhält. Er konnte allerdings auch anders. Eine Doku zur Aufnahme seiner West Side Story mit Opernsängerinnen und -sängern zeigt einen leidenden alten Dirigenten, dessen Liebenswürdigkeit sich beim spanischen Tenor José Carreras ins Gegenteil verkehrt.

West Side Story (1961) - Official® Trailer [HD]
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Weil der Song Maria nicht in einer dem Komponisten genehmen Art gelang, wurde Lenny ziemlich unangenehm. Das war 1985 und hätte in Maestro durchaus gestreift werden können, um die emotionale Bandbreite dieser widersprüchlichen Existenz einzufangen.

Schwierige Beziehung

Maestro ist allerdings, obwohl der Titel wie gesagt die Erwartung eines Künstlerporträts weckt, keine umfassende Filmbiografie. In Wahrheit ist das Netflix-Drama die Geschichte einer Beziehung, die zwei Existenzen an die Grenze ihrer Kapazitäten bringt. Das Festhalten an gesellschaftlichen Konventionen und ambivalente Emotionen lassen Bernsteins Ehefrau Felicia Montealegre hier seelisch ausbluten.

Seine Zuneigung zu Männern kann Lenny nur halbherzig verborgen halten. Nicht Bernsteins Affären sind allerdings für die Schauspielerin Felicia, die ihre Karriere für ihn aufgab, das Unerträgliche. Sie wusste, dass er schwul war. Der Film insinuiert vielmehr: Es war die Gefährdung des äußeren Scheins einer musterhaft glücklichen Ehe, aus der drei Kinder hervorgingen, die ihm Felicia verbal gnadenlos-giftig und verzweifelt übelnimmt.

Zu den dichtesten Momenten der grandiosen Carey Mulligan gehört denn auch jener, in dem Felicia ihren Lenny – während die Kinder draußen fröhlich herumtollen – unter vier Augen verbal grillt, bis er sprachlos in sich zusammensackt und verspricht, die Kinder bezüglich seiner Liaisons anzulügen.

Maestro | Official Teaser | Netflix
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Es gehört zu den Stärken von Maestro und Bradley Cooper als Regisseur wie auch als Darsteller, nur wenige Momente gleißender Triumphe und der dirigentischen Selbstentäußerung Lennys nachgestellt zu haben. In Nahaufnahme und quälend langsam schildert Maestro vor allem eine Zweisamkeit, die ins langsame Dahinscheiden einer an Krebs erkrankten Frau mündet, deren Mann nicht mehr von ihrer Seite weicht.

Sinnlose Prothese

Bradley Cooper gelingt es punktuell, Bernstein gleichsam vergessen zu machen und an Aussichtslosigkeit leidend eine existenzielle Grenzsituation allgemeingültig tief auszudrücken. Da hätte es der Nasen-Prothese, welche eine Debatte über angebliches "Jew-Facing" nach sich zog, gar nicht bedurft. Cooper zeigt hier jene Verzweiflung, die aus sich heraus durch subtile Unmittelbarkeit überzeugt. Es gibt sie natürlich, die Momente des Glanzes: Da landet Bernstein zu Beginn in einer fantasyartigen Verwandlung von seinem Bett direkt auf der Bühne der Carnegie Hall. Er springt für den erkrankten Bruno Walter ein, ohne mit dem New York Philharmonic Orchestra geprobt zu haben, und wird über Nacht bekannt.

Intensiv auch ein Ausschnitt aus der Aufführung der zweiten Symphonie Mahlers. Cooper als Bernstein quasi in hochexpressiver Selbstauflösung. Diese exaltierte Pose hat der Mime offenbar minutiös studiert, um das, was Bernstein auch ausgemacht hat, doch auch einzufangen.

Mit Student in Disco

Hier und da rast die Geschichte, zeigt die Rastlosigkeit eines unsteten Kettenrauchers, in dem einander behindernde Bedürfnisse womöglich ohne Aussicht auf Erlösung kämpfen. Felicia stirbt, später sieht man Bernstein mit einem seiner Studenten in der Disco tanzen. Der Maestro endlich glücklich? Wohl nicht ganz. Zu Beginn und am Ende des Films sitzt der alte Bernstein versunken in düsteren Klavierharmonien und jammert resignativ mit Reibeisenstimme, dass er Felicia vermisst. (Ljubisa Tosic, 6.12.2023)