Eine Frau inmitten zerstörter Gebäude in Nuseirat, während der Feuerpause zwischen Israel und der Hamas vor zwei Wochen
Eine Frauinmitten zerstörter Gebäude in Nuseirat, während der Feuerpause zwischen Israel und der Hamas vor zwei Wochen. Der in Österreich lebende Samir hat dort zahlreiche Verwandte verloren.
REUTERS/IBRAHEEM ABU MUSTAFA

Samir* hat es aus den Nachrichten erfahren. Der 31-jährige Palästinenser, der in Linz lebt, las online von einem Luftangriff auf Nuseirat, den Ort im Zentrum des Gazastreifens, wo seine Familie lebt. Er erkannte die Straße als jene, in der er selbst noch bis zum Jahr 2015 gelebt hatte, und versuchte verzweifelt, seine Familie zu erreichen. Vergeblich.

Erst Stunden später konnte ihm ein befreundeter Journalist bestätigen, dass es sich tatsächlich um das Haus seiner Familie gehandelt hatte. Samirs Eltern, seine Tante und drei seiner Geschwister inklusive deren Familien wurden unter anderem getötet, insgesamt 32 Angehörige zwischen neun Monaten und 61 Jahren, wie er dem STANDARD erzählt. Das Haus sei um zwei Uhr in der Nacht von zwei Geschossen getroffen worden, berichteten ihm Überlebende. Insgesamt lebten darin rund 90 Menschen, es sei komplett zerstört worden. Alle Menschen, die sich in den ersten drei Stockwerken aufgehalten hatten, seien getötet worden, viele davon im Schlaf verbrannt. Der Angriff erfolgte kurz bevor die einwöchige Feuerpause zwischen Israel und der Hamas am 24. November in Kraft trat.

Kritik nimmt zu

Im Zuge der Waffenruhe kamen 80 israelische Geiseln und 240 palästinensische Gefangene frei. Seit Anfang Dezember geht die israelische Armee aber wieder mit voller Härte gegen die radikalislamische Hamas vor, die am 7. Oktober ein beispielloses Massaker mit mehr als 1200 Toten anrichtete und rund 240 Israelis in den Gazastreifen verschleppte.

Zerstörung in Rafah am Mittwoch
Derzeit sind die Angriffe Israels vor allem im Süden das Gazastreifens massiv (im Bild: Zerstörung in Rafah am Mittwoch), wo Israel die Spitzen der Hamas sowie die von ihr verschleppten Geiseln vermutet.
AP/Hatem Ali

Die internationale Kritik am israelischen Vorgehen hat zuletzt zugenommen, denn die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung sind massiv. Diese Woche bezeichnete der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die Situation im Gazastreifen als "apokalyptisch". Die Zerstörung von Gebäuden durch die israelischen Angriffe entspreche der in deutschen Städten im Zweiten Weltkrieg oder sei sogar noch größer. UN-Angaben zufolge hungert inzwischen die Hälfte der Bevölkerung im Gazastreifen, die Verteilung von Hilfsgütern wurde aufgrund der Intensität der Kämpfe und der Bewegungseinschränkungen auf den Hauptstraßen weitgehend eingestellt. 1,9 Millionen Menschen, also rund 85 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner, gelten derzeit als Binnenvertriebene, mussten also ihr Zuhause verlassen und sind im dichtbesiedelten Küstenstreifen auf der Flucht.

Keine Sicherheit

Samirs Tante war erst vor kurzem aus dem Norden des Gazastreifens zu ihren Angehörigen nach Nuseirat geflohen – zusammen mit hunderttausend weiteren Palästinenserinnen und Palästinensern, die von der israelischen Armee zum Verlassen des Gebiets aufgerufen worden waren. Sein Bruder überlebte den Angriff Ende November schwerverletzt und befindet sich derzeit im Al-Aksa-Krankenhaus im Zentrum des Gazastreifens. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen teilte erst vergangene Woche mit, dass sich die Vorräte an Treibstoff und medizinischem Material in dem Spital inzwischen auf einem kritischen Niveau befinden. Der Weltgesundheitsorganisation zufolge sind nur noch elf der 36 Spitäler im Gazastreifen teilweise funktionsfähig.

Auch drei Kinder seiner Schwester überlebten den Angriff, alle nicht älter als vier Jahre. Samir versucht derzeit, sie über das Rote Kreuz nach Österreich zu holen. Der Krieg hat ein neues Akronym hervorgebracht für verletzte Kinder, die ihre Familie verloren haben: WCNSF. Wounded child, no surviving family.

"Die Situation vor Ort ist schrecklich", sagt Samir, der in Österreich bei einer Verpackungsfirma arbeitet. Es gebe kein Essen, kein Wasser, keinen Strom und vor allem: keinen Ort, an dem es sicher sei. Er wünscht sich ein Ende des Kriegs, dass die internationale Gemeinschaft und vor allem die Uno dahingehend mehr Druck auf Israel ausüben. "Jeden Tag sterben Menschen, die Mehrheit davon Frauen und Kinder. Das hat nichts mit Selbstverteidigung zu tun."

Nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums liegt die Zahl der in Gaza getöteten Palästinenserinnen und Palästinenser mittlerweile bei rund 19.000, etwa 70 Prozent davon Frauen und Kinder. Die Zahlen unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern und lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Bei früheren Kriegen haben sie aber eine hohe Übereinstimmung mit nachträglich geführten Uno-Statistiken aufgewiesen. Auch Richard Peeperkorn von der WHO erklärte am Dienstag, dass er die von den palästinensischen Behörden genannten Opferzahlen für verlässlich halte. Er verwies auf eine Studie der Fachzeitschrift "The Lancet", der zufolge es keine Anzeichen dafür gebe, dass Toten- oder Verletztenzahlen vom Gesundheitsministerium in Gaza aufgebauscht werden.

Samir und seine Familie hätten schon einige Kriege zwischen Israel und der Hamas erlebt, doch dieser sei mit Abstand der schlimmste, sagt Samir. Gaza hätte noch nie eine solche Zerstörung erlebt, die Menschen seien wehrlos und hätten nicht einmal Zugang zum Nötigsten. "Es gibt keine Menschlichkeit, kein Erbarmen."

Treffen geplant

Die Debatte zum Krieg in Österreich nimmt Samir als einseitig wahr, dem Leid der palästinensischen Bevölkerung werde kaum Platz eingeräumt. Damit würden die Verbrechen Israels normalisiert, kritisiert der 31-Jährige. "Die Menschen in Gaza verdienen auch zu leben."

Seine Eltern hat Samir 2015 zuletzt gesehen, bevor er den Gazastreifen zunächst in Richtung Jordanien und dann nach Europa verlassen hat. Im November war ein Treffen in der Türkei geplant, nach langen bürokratischen Querelen hatten sie endlich ein Visum bekommen und hätten Samirs knapp zweijährige Tochter zum ersten Mal kennenlernen sollen. Er hofft auf Frieden im Gazastreifen, damit er mit seiner Tochter das Grab ihrer Großeltern besuchen kann. (Noura Maan, 14.12.2023)