Die Pisa-Studie ist die wohl bekannteste Studie dazu, was Schülerinnen und Schüler können. Ihre Ergebnisse werden jedes Mal mit Spannung erwartet. Am Dienstag wurde die aktuelle Studie vorgestellt. Dafür wurden hunderttausende Schülerinnen und Schüler auf der ganzen Welt getestet. Was dabei herauskam, ist nicht berauschend: In den Naturwissenschaften blieben die Leistungen zwar stabil, beim Lesen und in Mathematik schnitten die Schüler und Schülerinnen jedoch deutlich schlechter ab als noch vor der Pandemie.

In einer Zeit, in der die künstliche Intelligenz immer mehr Aufgaben übernehmen kann und in der gesellschaftliche Herausforderungen insgesamt zunehmen, ist sowieso die Frage: Auf welche Fähigkeiten kommt es künftig überhaupt an? Was müssen Kinder lernen, damit sie für ihr späteres Leben gewappnet sind? Damit beschäftigt sich die Psychologin Verena Friederike Hasel in ihrem neuen Buch "Das krisenfeste Kind" (Verlag Kein & Aber). Es ist ein Buch, das sich an Pädagoginnen und Pädagogen richtet, aber auch an Eltern, Großeltern, Onkeln, Tanten und alle anderen, die mit Kindern zu tun haben. Dafür hat Hasel herausragende Schulen in Finnland und Deutschland besucht, um sich anzusehen, was dort besonders gut läuft. Im Interview erklärt sie, warum es nicht unbedingt die klassischen Fächer sind, die Kinder in Zukunft brauchen.

Kind; Marshmallow
Von der Fähigkeit, einem Marshmallow zu widerstehen, profitiert ein Kind offenbar sein Leben lang. Das zeigt eine psychologische Studie aus den 1960er-Jahren.
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STANDARD: In Ihrem Buch schildern Sie den sogenannten Marshmallow-Test, ein bekanntes Experiment aus den 1960er-Jahren. Ein Psychologe der Stanford University setzte Kindern einen Marshmallow vor, und sie hatten dann die Wahl: Essen sie ihn gleich – oder halten sie 15 Minuten durch und bekommen nach Ablauf der Zeit einen zweiten. Man stellte fest, dass Kinder von der Fähigkeit, sich zu regulieren und die Süßigkeit nicht gleich zu essen, im Erwachsenenleben profitieren. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die heutige Zeit ein einziger Marshmallow-Test sei. Wie bereiten wir Kinder darauf vor?

Hasel: Es gibt heute so viele Möglichkeiten, aus denen wir wählen können! Diese Freiheit ist einerseits wunderbar, andererseits müssen wir damit umgehen können. Denn sie bedeutet, dass wir ständig Entscheidungen treffen, ständig auswählen müssen. Insofern wird das Leben immer mehr zu einem Marshmallow-Test. Darauf bereiten wir unsere Kinder vor, indem wir mit ihnen Selbstregulation üben. Das ist eine ganz wichtige Fertigkeit. Sie bezeichnet das Vermögen, die eigenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen an Situationen anzupassen und sich so zu beherrschen, dass man selbstgesteckte Ziele erreicht.

Selbstregulation übt man, indem man Kinder zum Durchhalten motiviert, wenn sie sich ein Ziel gesteckt haben. Man kann mit ihnen vorab die Widerstände besprechen, auf die sie womöglich stoßen, damit sie diese nicht unvorbereitet treffen. Oder man kann ein Ziel in kleine Teilziele zerlegen und damit handhabbar machen. Außerdem sollte man aufpassen, dass Kinder nicht abwertend gegenüber sich selber sind, sondern es schaffen, gut zu sich zu sein und sich selbst zu trösten. Ebenfalls sinnvoll: über eigene Ziele zu sprechen und darüber, wie man versucht, sie zu erreichen. Aber auch über Misserfolge und wie man damit umgeht. Wir Erwachsenen sollten Vorbilder sein – aber nicht dadurch, dass wir alles richtig machen, sondern indem wir zeigen, wie wir damit umgehen, wenn uns etwas nicht gelingt.

STANDARD: Sie waren an herausragenden Schulen und haben sich angeschaut, wie dort auch diese Formen des Lernens in den formalen Unterricht eingebaut werden. Was haben Sie zum Beispiel in Finnland gesehen?

Hasel: Die sozial-emotionale Entwicklung von Kindern wird dort viel wichtiger genommen und in die Fächer integriert. Das Fachliche und das Emotionale werden nicht voneinander getrennt, sondern als Ganzes begriffen. Man ist viel stärker darum bemüht, die bestehende Ungleichheit, die ja daher kommt, dass Elternhäuser sehr unterschiedlich sind, auszugleichen durch ein Fach, das Lebensberatung heißt. Kinder in den höheren Klassen haben sogar ein Anrecht auf eine Beratung dazu, was sie mit ihrem Leben machen wollen. So will man dafür sorgen, dass nicht nur die Kinder, die von zu Hause viel Unterstützung bekommen, Hilfe haben bei der Wahl der richtigen weiterführenden Schule oder der richtigen Universität. Sondern eben alle. Was in Finnland ebenfalls ganz anders ist: Es wird stärker präventiv gearbeitet, was psychische Gesundheit angeht. Schon in den Vorschulen sind Psychologinnen und Psychologen vor Ort. Sie geben schon vor Beginn der ersten Klasse dem Lehrer oder der Lehrerin dazu Rückmeldung, was ein Kind braucht und ob es zusätzliche Unterstützung benötigt.

STANDARD: An einer finnischen Schule gab es eine Übung, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist. Junge Schülerinnen und Schüler bastelten eine Blume. Auf die Blütenblätter sollten sie schreiben, was ihnen Freude macht und sie stärkt – Kuscheln mit Papa oder ein Besuch in der Kletterhalle.

Hasel: Diese Blumen wurden dann hinten im Klassenzimmer aufgehängt, und so entstand eine riesige Wiese. Die Übung hieß "Wiese der Freude". Es ging darum, sich zu überlegen, was einen in schwierigen Situationen tröstet und stärkt. Es war schön zu sehen, wie die Kinder nicht nur ihr eigenes Verhalten reflektiert haben, sondern einander auch gegenseitig Wege aufgezeigt haben, wie man sich trösten kann.

Es gab noch eine andere schöne Übung, die ich gesehen habe. Da hatte die Lehrerin auf den Boden große Punkte geklebt, einen roten, einen orangenen und einen grünen. Sie hat dann Fragen gestellt, und die Kinder sollten zu dem Punkt gehen, der am meisten ihrer Antwort entsprach. Einige Fragen waren: Kommst du gerne hierher? Hast du in der Pause Kinder, mit denen du spielen kannst? Dann hat die Lehrerin diejenigen, die auf einem grünen Punkt standen, gefragt: Weshalb kannst du denn hier stehen? Die Kinder, die auf einem roten Punkt standen, hat sie gefragt: Was würdest du dir wünschen? Was könnte dazu führen, dass du vielleicht auf einen grünen Punkt überwechseln kannst? Das Ziel war, dass am Ende des Schuljahrs möglichst viele Kinder bei möglichst vielen Antworten auf den grünen Punkten stehen. Alle sollten sich wohlfühlen.

Dass es so etwas gibt, hat einen einfachen Grund: In Finnland ist im Curriculum vorgeschrieben, dass sozial-emotionales Lernen in irgendeiner Form an den Schulen stattfinden muss. Wie das genau passiert, ist den Schulen selbst überlassen.

Auch sozial-emotionales Lernen ist in der Schule wichtig, sagt Hasel.
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STANDARD: Warum ist es denn so wichtig, das in der Schule zu lernen? Sollte es in der Schule nicht um den Stoff gehen, um Fächer wie Mathematik und Englisch, Geografie?

Hasel: Es ist ganz offenkundig so, dass man nicht gut lernen kann, wenn man sozio-emotionale Schwierigkeiten hat. Ist man angsterfüllt oder hat Aggressionen, kann man sich kaum auf den Unterrichtsstoff konzentrieren. Wenn Kinder mit einem guten emotionalen Fundament in der Klasse sitzen, erleichtert das auch den Unterricht. Außerdem ist unsere Welt so unberechenbar geworden, dass man sich nicht sicher sein kann, ob man den Kindern alles mitgibt, was sie später brauchen werden, wenn man sich rein auf das Fachliche konzentriert. Um in einer Welt zu bestehen, die sehr unsicher geworden ist, braucht man mehr innere Stärke.

"Unsere Welt ist so unberechenbar geworden, dass man sich nicht sicher sein kann, ob man den Kindern alles mitgibt, was sie später brauchen werden, wenn man sich rein auf das Fachliche konzentriert." (Verena Friederike Hasel, Psychologin)

STANDARD: Es gibt in Ihrem Buch auch ein Kapitel, das heißt "Kreativität kann uns retten". Wie genau?

Hasel: Wir leben ja im Zeitalter der Ideen, in dem wir teilweise ganz neue Lösungen brauchen. Deshalb ist Kreativität eine der wichtigsten Kompetenzen des 21. Jahrhunderts. Um sie zu fördern, sind mehrere Dinge wichtig. Zum einen braucht es eine gewisse Sachkenntnis. Ein Experiment hat gezeigt: Wenn man Kindern immer genau erklärt, wie sie mit etwas spielen sollen, verlieren sie relativ schnell das Interesse. Wahrscheinlich, weil sie denken: Ich weiß ja schon alles, was ich wissen muss! Jene Kinder hingegen, denen man das nicht erklärt, spielen viel länger mit etwas. Das Zweite ist, dass Kreativität Leerlauf braucht. Wenn man sich gar nicht mehr weiter mit einem Problem beschäftigt, sondern etwas anderes macht, kommt die Lösung oft unerwartet.

Das Dritte ist, dass Kreativität einen spielerischen Zugang braucht. Auch dazu gab es ein Experiment. Kinder sollten eine möglichst kreative und fantasievolle Collage produzieren. Die eine Gruppe hat vorher 30 Minuten lang einen Text abgeschrieben, also eine sehr stupide Aufgabe erledigt. Die andere hat einen Salzteig bekommen, den sie formen konnten, wie sie wollten. Im Anschluss haben sie die Collagen gemacht und es wurde verglichen, welche kreativer waren. Und das waren eindeutig die der Kinder, die mit dem Salzteig arbeiten konnten.

STANDARD: Kreativität bedeutet also auch, Kindern Freiheit zu lassen. An einer Schule, an der Sie waren, haben die Schülerinnen und Schüler viel an anderen Orten gelernt als im Klassenzimmer, etwa im Wald. Wie sieht das genau aus?

Hasel: Dort haben sie zum Beispiel mit Naturmaterialien, die sie im Wald gefunden haben, gerechnet. Ob man mit Tannenzapfen multiplizieren übt oder im Klassenzimmer, macht ja auch erst mal keinen Unterschied. Und das Haptische ist natürlich interessanter für die Kinder. Aber es geht nicht nur um Naturpädagogik. Es gibt auch wunderbare andere Beispiele, die zeigen, dass man in der Welt mehr lernt als im Klassenzimmer. In Helsinki gibt es etwa es eine ganz wunderbare Bibliothek namens Oddi. Dort habe ich einen Lehrer getroffen, der einmal pro Woche mit seinen Kindern dorthin gefahren ist, quer durch die Stadt, weil er gesagt hat: Ich will unbedingt, dass die Kinder frühzeitig erfahren, dass Lernen nicht an die Schule gebunden ist, sondern dass man auch andere Orte dafür aufsucht.

Wichtig wäre gleichzeitig, dass man auch die Welt mehr in die Klassenzimmer holt. Etwa durch ein Fach wie Lebensberatung, über die wir bereits gesprochen haben. An einer Schule, die ich in Finnland besucht habe, wurden Leute mit unterschiedlichen Berufen eingeladen: ein Koch, ein Rechtsanwalt, ein Arzt, ein Krankenpfleger. Als ich da war, war gerade ein Start-up-Unternehmer dort. Der hat darüber gesprochen, wie er seine Gründungsidee umgesetzt hat, aber auch über soziale, emotionale Dinge – beispielsweise wie es ihm psychisch zusetzte, als er pleiteging. In einer anderen Schule in Deutschland haben eine Staatsanwältin und eine Rechtsanwältin über mehrere Wochen regelmäßig Stunden übernommen. Das war in den Fächern Deutsch und Politik. Sie haben den Kindern das Rechtssystem erklärt, mit ihnen eine öffentliche Verhandlung besucht oder eine Gerichtsverhandlung nachgespielt.

STANDARD: Das wäre so eine Möglichkeit, wie man Schule lebensnäher gestaltet. Ihr wird ja häufig vorgeworfen, sie sei weltfremd. Das, was Sie schildern, ist aber auch insofern interessant, als man oft meint, an finnischen Schulen säßen die Kinder den ganzen Tag vor dem Laptop. Welche Rolle spielt das Digitale tatsächlich?

Hasel: Ich würde sagen, dass sie sich in Finnland sehr viel früher damit beschäftigt haben, was digitales Lernen bedeutet. Das heißt aber nicht, dass die Schülerinnen und Schüler die ganze Zeit am Laptop sitzen. Das Digitale wird nur selbstverständlicher in den Unterricht integriert. Der Umgang mit diesen technischen Möglichkeiten ist unaufgeregter. Sie sind eine Option, aber es gibt auch andere Optionen. Manchmal machen die Kinder vielleicht gerne eine Powerpoint-Präsentation, und ein anderes Mal sagen sie: Nein, ich möchte eigentlich lieber ein Plakat gestalten.

STANDARD: In Ihrem Buch ist auch von sogenannten Zukunftstagen die Rede. Was sind denn Zukunftstage?

Hasel: Die so genannten Freidays gibt es in Deutschland inzwischen an sehr vielen Schulen. An diesen Tagen arbeiten die Kinder an einem selbstgewählten Thema, konkret an einem Problem. Es ist ein Thema, das sie beschäftigt und über das sie sich Gedanken machen. Und dann versuchen sie eine Lösung dafür zu finden. An diesen Tagen findet kein normaler Unterricht statt, sondern die Schülerinnen und Schüler können sich in Kleingruppen zusammenschließen und versuchen, sich diesem Problem gemeinsam anzunähern. Natürlich mithilfe der Lehrer und Lehrerinnen, aber auch mithilfe von anderen Leuten, die sie ansprechen können, die vielleicht gar nicht an der Schule arbeiten. Auch da erkennt man wieder den Bezug zur Welt, zum echten Leben.

STANDARD: Sie schreiben: "Kinder müssen sich beherrschen, auf andere beziehen und sich bewegen. Sie müssen Technologie benutzen, anstatt sich von ihr benutzen zu lassen, sich der Freiheit, die sie haben, bedienen und sich ihrer eigenen Möglichkeiten bewusst werden. Sie müssen Komplexität begreifen und sich begeistern für Themen, für Menschen und für sich selbst."

Hasel: Begeisterung ist natürlich ganz wichtig! Und ich glaube, es ist ein Problem der Schulsysteme in deutschsprachigen Ländern, dass wir uns manchmal selbst so benehmen, als könne Lernen nicht Spaß machen. Das zeigt zum Beispiel unsere Fixierung aufs Notensystem. Wir glauben, Kinder würden sich gar nicht von sich aus für etwas begeistern können, sondern bräuchten diese extrinsische Motivation, um gerne zu lernen. Und als Psychologin muss ich sagen, dass das so nicht ist und extrinsische Ansätze manchmal sogar schaden.

Vor einigen Jahren wurde eine Studie durchgeführt, die eigentlich viel bekannter sein müsste. Dabei haben sich Forscher in einem Kindergarten umgesehen und jene Kinder herausgegriffen, die besonders gern gemalt haben. Diese Kinder haben sie dann zu einem Experiment gebeten, wofür sie sie in zwei Gruppen aufteilten. Den einen haben sie gesagt: Malt einfach drauflos, so wie immer. Und den anderen Kindern haben sie gesagt: Malt etwas, und dann bekommt ihr eine Belohnung dafür.

In einem zweiten Schritt haben sie sich angeschaut, was die Kinder produziert haben, und festgestellt, dass jene Kinder, denen eine Belohnung versprochen war, Dinge gemacht haben, die von geringerer Qualität waren. Was aber noch viel spannender ist: Die Wissenschafter sind danach in den Kindergarten zurück und und haben sich angeschaut, wie viel Zeit die Kinder aus dem Experiment noch mit Malen verbringen. Das Ergebnis: Die Kinder, die mit einer Belohnung gelockt worden waren, verbrachten danach viel weniger Zeit am Tisch. Sie hatten ihre Begeisterung fürs Malen ein bisschen verloren, so als hätte sich bei ihnen der Verdacht eingestellt, dass Malen gar nichts so Tolles sein kann. Dass man das nur tut, wenn man etwas dafür bekommt. (Podcast: Lisa Breit, 8.12.2023)