"Wo geht's denn hier zur Demo?“ Im Herzen des Wiener Reumannplatzes herrscht unter Gewerkschaftern kurz Verwirrung. Rote Jacken und laute Pfiffe weisen ihnen aber rasch den Weg. Eine Truppe aus Funktionären und Handelsangestellten wärmt sich in der Favoritner Straße mit zündenden Parolen auf. Die Botschaft ist trotz klirrender Kälte, die rundum die Zähne klappern lässt, unmissverständlich: Keiner der Beschäftigten des Handels in Österreich lasse sich länger "papierln" und mit einer Gehaltserhöhung unter der rollierenden Inflation von 9,2 Prozent abspeisen.

Das Klima im Handel ist aufgeheizter denn je.
APA/TOBIAS STEINMAURER

"Dass der Damm gebrochen ist, haben sich die Arbeitgeber selbst zuzuschreiben. Keiner unter den Handelsbeschäftigten hat noch Angst vor einem Streik", sagt Martin Müllauer. Der Gewerkschafter rang tags zuvor an der Seite von Helga Fichtinger um einen Lohnabschluss für 430.000 Angestellte. Auch die fünfte Verhandlungsrunde scheiterte.

Das Klima in der Branche ist aufgeheizter denn je. Auch das zweite Adventwochenende steht im Banne von Streiks und Protestkundgebungen, deren Intensität in den kommenden Wochen zunehmen soll. Weihnachtsfriede unter Sozialpartnern sieht anders aus.

"Unsere Stimmen haben sie", murmeln zwei Männer, die an einem Geschäftseingang lehnen, sich mit Zigaretten wärmen und in Richtung des Protestzugs nicken. "Unternehmer richten es sich, die Mitarbeiter schauen durch die Finger", sind die beiden einig.

"Noch schlechtere Jobs"

Böse Blicke ernten Demonstranten von einer betagten Dame. Es gäbe schlechter bezahlte Jobs als im Handel, zetert sie. Ihr Sohn verdiene als Hilfskraft in der Pflege 1200 Euro im Monat. "Dafür würde keiner von denen hier hackeln." Leute wie ihresgleichen stünden jedoch nicht herum und brüllten lauthals, sondern arbeiteten.

Viel los ist am Marienfeiertag vormittags in Favoriten freilich nicht. Eine lange Menschenschlange bildet sich allein vor einem neuen Kebab-Restaurant, hinter dessen Auslage ein Feuer lodert. "Keiner kauft ein", seufzt der Betreiber eines Restpostenshops und deutet resigniert über die leeren Gänge seiner fast bis zum Dach mit Ware gefüllten Filiale. Bisher habe der Dezember stets das Jahresgeschäft gerettet. Heuer aber drehten die Leute selbst die kleinsten Centbeträge vier Mal um.

Der junge Mann ist ob der Proteste vor seinem Geschäft hin und her gerissen. "Ich will in Ruhe arbeiten. Das vertreibt mir ja die Kunden." Im nächsten Atemzug räumt er ein, dass sich diese ja oft selbst im Verkauf verdingten, dass sie, wie auch er selbst als Unternehmer, mit dem Verdienst nicht über die Runden kämen und allen Grund für Aufmärsche hätten.

"Übrig bleiben große Handelsketten"

Zwiegespalten ist auch ein Buchhändler, einige Hausecken weiter. Er gönne jedem, der auf der Straße für seine Rechte eintrete, deutlich bessere Gehälter, sinniert er. Für kleine Betriebe wie den seinen werde es aber immer schwerer, sich finanziell über Wasser zu halten. Er frage sich, ob und wie viel Personal sich dieser künftig noch leisten könne. "Übrig bleiben werden die großen Handelsketten."

Acht Prozent höhere Gehälter boten die Arbeitgeber zuletzt. Von Einmalzahlungen, die für Gewerkschafter ein rotes Tuch sind, rückte man ab. Für die Arbeitnehmer führt an einer sozialen Staffelung jedoch kein Weg vorbei.

Für die unteren Gehälter, die nach wie vor unter 2000 Euro brutto liegen, gehöre in jedem Fall die Teuerung abgegolten. Und wenn nicht durch Geld, dann durch Arbeitszeitverkürzung, sagt Müllauer. "Das hätte durchaus Charme gehabt." Politisch überschreite man damit jedoch offenbar eine rote Linie.

"Leere Einkaufszentren"

Längst an ihre Grenzen gekommen sieht Monika Schöngruber allerdings auch ihre Kolleginnen und Kollegen. Sie arbeite seit 30 Jahren im Handel, erst für Sport Eybl, mittlerweile für den Diskonter Sports Direct, erzählt die Betriebsrätin, nachdem sie am Keplerplatz um die Solidarität der Kunden bat. "Früher betreuten wir zu siebent 1500 Quadratmeter Verkaufsfläche. Heute wird man dafür alleine abgestellt. Wie soll das gehen?"

Ihre Kolleginnen und Kollegen verließen in Scharen den Handel in Richtung andere Branchen. Selbst mit Hilfsjobs verdienten sie in der Industrie mehr. Wer das noch immer nicht wahrhaben wolle, dem wünsche sie viel Spaß in leeren Einkaufszentren.

Ob Bäcker, Brauer oder Beamte, Pensionisten, Pflegekräfte, Reinigungskräfte – sie alle erhalten 2024 um bis zu zehn Prozent mehr. Ist Arbeit im Handel weniger wert? Keine einzige Branche stehe finanziell derart im Abseits wie die seine, sagt Rainer Trefelik, Chefverhandler der Arbeitgeber. Die Bäcker könnten Semmelpreise anheben, Facilityanbieter Wartungsverträge anpassen. "Sollen Händler die Levis-Jeans verteuern, damit sich Kunden das gleiche Modell billiger bei Amazon kaufen?"

"Schließungswelle"

Trefelik betont, dass Beschäftigten mit einer Schließungswelle im Handel nicht geholfen sei. Warum bürde man Arbeitnehmern die Probleme kleiner Betriebe auf, die von der Regierung gelöst gehörten, fragt sich hingegen Schöngruber. Schuld an den vielen Pleiten sei nicht die Forderung nach fairen Gehältern, ergänzt Müllauer. "Die Handelsbeschäftigten können nichts dafür, dass sich unsere Gesellschaft und das Einkaufsverhalten ändern."

Öl ins Feuer des Konflikts gießt der Aufruf der Gewerkschaft, vor allem jene Betriebe ins Visier zu nehmen, deren Vertreter in die Kollektivvertragsverhandlungen eingebunden sind. "Das ist demokratiepolitisch untragbar", sagt Handelsverbands-Präsident Stephan Mayer-Heinisch.

Konsumenten in Favoriten zerbrechen sich darob während ihrer Einkaufsrunde am Feiertag keine Köpfe: Noch sei fürs Besorgen der Weihnachtsgeschenke genug Zeit. Sei wo einige Stunden lang geschlossen, kaufe man eben später oder anderswo ein. Das Internet habe ohnehin rund um die Uhr offen. (Verena Kainrath, 8.12.2023)