Bombenkrieg Nazi-Diktatur Familienroman
Dresden, das stolze Elb-Florenz, wurde vom 13. bis 15. Februar 1945 von alliierten Bombern vollständig zerstört.
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Anfang 1945 war für alle Einsichtigen absehbar: Der "totale Krieg" würde für Nazideutschland im Desaster enden. Kaum eine Großstadt, die von den alliierten Bomberflotten nicht verheerend getroffen worden war. Die bedeutsame Ausnahme bildete Dresden, Sachsens Königsstadt, das Elb-Florenz mit seinen unzähligen Türmen und Terrassen.

Längst hielten sich die Dresdnerinnen und Dresdner, von Stolz gebläht, für Günstlinge des Schicksals. Dieser Kelch würde allein schon wegen der unvergleichlichen Anmut ihrer Bauwerke an ihnen vorübergehen! Durs Grünbein, Autor des Romans Der Komet, wiegt die Bewohner noch knapp vor Ende des Buches in trügerischer Sicherheit.

Lyrik Aufarbeitung Sachsen
Autor Durs Grünbein, Chronist in eigener Familiensache.
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Augenzeugen am Elb-Ufer wollten Wolken gesehen haben, die zum Gesicht Friedrichs des Großen zusammenflossen. Der Alte Fritz wacht über Dresden! Wieder andere meinten zu wissen, die Großmutter von Winston Churchill wohne zurückgezogen im Dresdner Stadtteil Striesen. Dort trinke sie ihren Fünf-Uhr-Tee und bete im Stillen für den Enkel. "Willst du das Leben genießen, nimm dein Bett und zieh nach Striesen." Vier Angriffe flogen die Alliierten im Februar 1945 auf Dresden. Das Zusammenwirken von Spreng-, Brand- und Streubomben entfachte einen Feuersturm ungekannten Ausmaßes. Die Heldin von Der Komet ist zu diesem Zeitpunkt scharlachkrank. Dora Wachtel, eine Großmutter des Autors, liegt im Keller eines Spitals unweit der Elbe.

Verglühte Löschzüge

Dieser Umstand rettet der gebürtigen Niederschlesierin das Leben. Grünbeins gedrängter Schilderung der Katastrophe entnimmt man Fassungslosigkeit. Die eilig herangeführten Löschzüge der Feuerwehr verglühen im Nu. Was wurde eigentlich aus den Tieren im Zoo? Entscheidender ist die Rückschau Doras: Die gelernte Ziegenhirtin, die aus einfachsten Verhältnissen stammt, vermag auch später nur in Andeutungen über das Inferno zu sprechen. "Immer drängte irgendein sinnloses Detail sich hervor", schreibt Grünbein, "an dem das Einzelne festklebte wie der Kuchen an der Kuchengabel."

Mitunter sind es gerade Einzelheiten, die Grünbein aneinanderfügt, die sich dennoch zu keiner Geschichte fügen. Doras Eintritt ins Erwachsenenleben – mit 16! – ist mit ihrer Übersiedlung nach Dresden anno 1936 eng verquickt. Ein Schlachter namens Oskar nimmt sich ihrer an, ein Märchenprinz mit weißer Schürze. Die Fabel könnte sich ein sächsischer Ödön von Horváth ausgedacht haben.

Nüchterner Realitätssinn

Wie Dora im Wunderland durchquert die frischgebackene Dresdnerin ihre neue Heimat. Nüchterner Realitätssinn paart sich bei ihr mit der Begabung für den kleinen, reuelosen Genuss. Es handelt sich um eine neuartige Mentalität. Sie beschert Millionen von Mittelstandsmenschen bescheidenen Wohlstand, und sie wird von den Nationalsozialisten nach Kräften befördert. Was "normalen" Deutschen wie Dora und ihrem Mann früh sauer aufstößt, ist die Bevormundung durch die Nazis, die nicht abreißende Kette kleinster Verwaltungsschritte. Unablässig wird gesammelt und registriert.

Als deutsche Hausfrau erlernt man die Kunst, sich mit der Wirklichkeit zu arrangieren. Die ältere jüdische Dame in der Dachmansarde oben? Lebt zurückgezogen. Wenn die Gestapo bei ihr plündern war, hilft anschließend Doras Gemahl beim Beseitigen der Spuren mit. Manchmal will es scheinen, als wäre Grünbeins kleiner Epochenroman sich selbst das größte Rätsel. Zwar verändert der Autor immer wieder den Blickwinkel. Das eine Mal guckt er Oma treuherzig über die Schulter, dann wieder muss er sich über ihre Unbedenklichkeit wundern.

Die Menschen schlitterten blindlings ins Verderben, vor allem in dasjenige ihrer jüdischen Mitbürger. "Der Krieg, ein scharfes Schwert", so Grünbein, "hatte dann alles in ein Vorher und Nachher geschieden …" Bis dass das Schwert uns scheidet? Wie der sprichwörtliche "Komet" soll das verheerende Bombardement Dresden getroffen haben, aus vorsätzlich heiterem Himmel.

Durs Grünbein (61), der große Lyriker, hat auf eine begriffliche Nachbearbeitung der eigenen Familienerzählung verzichtet. Geschichte bleibt übrig als etwas, das den Geschichtslosen widerfährt. Mehr Widerspruch wäre wichtig gewesen. (Ronald Pohl, 12.12.2023)