Ob man mit zunehmendem Alter tatsächlich weiser wird, ist umstritten. Schon Ernest Hemingway vermutete in seinem ersten großen Roman Fiesta (The Sun Also Rises), dass Ältere in Wahrheit nur vorsichtiger werden. Was jedoch definitiv im Alter schlechter wird, ist das Sehen. Die natürliche Linse des Auges verliert an Flexibilität, kann folglich schlechter zwischen Nähe und Ferne fokussieren. Eine Lesebrille wird dann meist unausweichlich.

Das österreichische Start-up Dezimal hat ein optisches Gerät entwickelt, mit dem man erstmals präoperativ durch ein künstliches Linsenimplantat blicken kann.
Das österreichische Start-up Dezimal hat ein optisches Gerät entwickelt, mit dem man erstmals präoperativ durch ein künstliches Linsenimplantat blicken kann.
DEZIMAL GmbH

Derartige Alterssichtigkeit, im Volksmund fälschlicherweise immer noch Altersweitsichtigkeit genannt, aber auch auftretende Trübungen durch Katarakt wie Grauer Star lassen das Sehvermögen bei vielen schwinden. Einen Ausweg bietet die moderne Medizin. Augenoperationen, bei denen die eigene Linse durch eine künstliche, sogenannte Intraokularlinse ersetzt wird, sind mittlerweile Alltag.

Ungeachtet der Häufigkeit solcher Eingriffe hatte der Linsentausch bisher jedoch einen Schönheitsfehler. Denn im Gegensatz zu anderen Sehbehelfen wie Brillen oder Kontaktlinsen kann man vor dem operativen Einsetzen einer künstlichen Linse nicht ausprobieren, wie das Sehvermögen und vor allem der subjektive Seheindruck nach dem Eingriff sein werden.

Das ist insofern problematisch, als die gleiche Kunstlinse bei verschiedenen Menschen zu einem unterschiedlichen Sehempfinden führt. Denn neben Linse und Netzhaut hat auch die individuelle Beschaffenheit der Hornhaut einen Einfluss auf das Sehvermögen. Dazu kommt, dass der wesentliche Teil der Bildaufbereitung im Gehirn passiert. Und das verarbeitet Signale bekanntlich unterschiedlich, was bei verschiedenen Personen zu unterschiedlichen Ergebnissen führt.

Individuelle Linse

Umso überraschender ist es daher, dass optische Geräte, mit denen man das zu erwartende Sehvermögen vorab abtesten kann, in Praxen wie auch in Krankenhäusern bisher fehlen. Ändern will das nun das österreichische Start-up Dezimal. Es hat ein optisches System entwickelt, das Patientinnen und Patienten präoperativ den Blick durch echte Intraokularlinsen bietet.

Dadurch sollen diese mit eigenen Augen sehen können, was der bevorstehende Austausch der Linse bewirken wird. Auch die Wahl einer anderen, besser geeigneten Linse, etwa weil das Bild einen bestimmten Farbstich hat, Kontrastverluste oder unangenehme Streueffekte vorhanden sind, wird so möglich.

Dezimal Linsensystem
Das Linsensystem von Dezimal.
DEZIMAL GmbH

Damit das überhaupt funktioniert, muss das System beim Durchschauen durch das Gerät die natürliche Linse herauskompensieren. Gleichzeitig müssen die Bildeigenschaften so ins Auge projiziert werden, als wäre die künstliche Linse schon implantiert. "Das haben schon viele versucht, sind bisher aber daran gescheitert. Auch wir haben vier Jahre lang intensiv an so einem System getüftelt", erklärt Martin Kornfeld, Mitgründer und Geschäftsführer von Dezimal.

Erste Ideen zu einem solchen Produkt tragen die Entwickler schon seit zehn Jahren mit sich herum. Ein Forschungsprojekt des Photonics-Mitglieds Austrian Center for Medical Innovation and Technology (Acmit) und des deutschen Linsenherstellers 1stQ brachte schließlich den Durchbruch. Die patentierte Erfindung, die auf einem komplexen Linsensystem aufbaut, soll Anfang nächsten Jahres nach einer klinischen Studie zugelassen werden und in Serienproduktion gehen. Im Labor wurde das System bereits validiert. Fördermittel kamen unter anderem von FFG, Klimaschutzministerium, aber auch den Ländern Niederösterreich und Tirol.

Made in Austria

Durch die Ausgründung als Spin-off von der Mutterfirma Acmit und entsprechende Vereinbarungen könne man gewährleisten, dass die Fertigung und Wertschöpfung in Österreich bleiben, freut sich Kornfeld. In einem ersten Schritt soll das Gerät in Österreich und Deutschland vermarktet werden, das Interesse aus anderen Ländern von Spanien, Großbritannien bis hin zu den USA, Südamerika und Australien sei groß.

Auch Chirurginnen und Chirurgen, die seit Jahrzehnten künstliche Linsen einsetzen, hätten sich begeistert gezeigt, dass sie die Auswirkungen eines Linsentausches erstmals mit eigenen Augen sehen könnten.

Martin Kornfeld, Mitgründer von Dezimal.
Martin Kornfeld, Mitgründer von Dezimal.
DEZIMAL GmbH

Eingesetzt werden kann das Gerät sowohl in Praxen als auch in Krankenhäusern. Gerade in Praxen könnten Alterssichtige, bei denen sich zusätzlich ein beginnender Katarakt abzeichnet, davon profitieren. Sie könnten folglich bereits eine Linse ausprobieren, wenn ihr Sehvermögen noch nicht beeinträchtigt ist, und dann auf diese zurückgreifen, wenn eine Operation unausweichlich wird.

Ein weiteres Anwendungsszenario betrifft die Entwicklung von neuen Intraokularlinsen. Denn durch das Gerät können nicht nur Forschende und Entwickler erstmals selbst mit ihren eigenen Augen nachvollziehen, welche Eigenschaften eine Linse hat. Auch Vorstudien und klinische Studien, bei denen eine Linse an gesunden Personen getestet wird, lassen sich so viel leichter und schneller durchführen, erklärt Kornfeld.

Die Kosten für das geplante Gerät bewegten sich "in einem normalen Rahmen" für derartige Medizingeräte, seien also auch für spezialisierte Praxen absolut stemmbar. (Martin Stepanek, 13.12.2023)