Bild von der Klimakonferenz in Dubai, auf dem nur Männer zu sehen sind.
Auch viele Bilder von der Weltklimakonferenz in Dubai zeugen von männlichen Monokulturen, die noch immer als normal gelten.
IMAGO/ZUMA Wire

Christoph May ist Männerforscher, Berater und Mitbegründer des Instituts für Kritische Männlichkeitsforschung. Auf Einladung der Frauensprecherin der Grünen, Meri Disoski, hielt May im Rahmen der "16 Tage gegen Gewalt" einen Vortrag über toxische Männlichkeit in Wien. Der Männerforscher und die Frauenpolitikerin im Doppelinterview.

STANDARD: Was ist kritische Männlichkeit?

May: Selbstkritisch zu sein und die eigenen Privilegien auf dem Schirm zu haben. Selbstkritische Männlichkeit heißt vor allem, dass Männer sich mit Flinta-Perspektiven (Anm.: Flinta steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, Trans- und Agender-Personen) auseinandersetzen und sich mit deren Lebensrealitäten beschäftigen. Kritikfähigkeit ist bei Männern ein Problem. Männer wachsen oft so auf, dass sie nicht lernen, sich auch selbst mal kritisch in den Blick zu nehmen. Bei Kritik kommt oft sofort Abwehr. Ihnen fällt oft nicht auf, dass sie in einer männlich dominierten Umgebung unterwegs sind. Da geht es nicht nur um männlich dominierte Strukturen, sondern auch um repräsentative Männlichkeit: die Macht von Bildern, die männlich dominierten Erzählungen, Filme, Serien, Literatur, Musik. Wenn mir in Workshops die Teilnehmer ihre Spotify- oder Streaminglisten zeigen, dann sind unter den Top Ten bei den Männern definitiv alles männliche Produktionen.

Der Männlichkeitsforscher Christoph May.
Christoph May.
Sigrun Lillegraven

STANDARD: Der Begriff toxische Männlichkeit wird oft dahingehend kritisiert, dass er Männlichkeit mit etwas Problematischem, etwas Giftigem gleichsetzt. Können Sie das nachvollziehen?

Disoski: Sehen wir uns die Lage der Welt an und was aufgrund von patriarchalen Männerbünden passiert. Denken wir an die fürchterlichen Berichte von Vergewaltigungen an Israelinnen, an Afghanistan, wo Mädchen nicht in die Schule gehen können. Oder schauen wir nach Polen und Ungarn, wo es Abtreibungsverbote gibt. Es ist evident, dass wir in patriarchalen Strukturen leben. Frauen und Mädchen bekommen von klein auf eingetrichtert, dass sie sich infrage stellen müssen, weil sie nicht als Norm gesehen werden. Die Norm ist der Mann, der männliche Körper, das männliche Verhalten. Wir können immer weiter an Frauen appellieren: Tut doch das, tut doch jenes. Aber wenn wir nicht auch kritische Männlichkeit einfordern, sind wir auf verlorenem Posten. Männer müssen reflektieren und die Lebensrealitäten von Mädchen und Frauen verstehen. Jede dritte Frau sagt, ich bin von Gewalt betroffen, aber kein Mann will ein Täter sein. Das geht sich nicht aus.

May: Der Begriff der toxischen Männlichkeit ist fantastisch. Ich höre dieses Argument gegen diesen Begriff oft, und ich versteh es nicht. Das Fundament für Männerbünde, der Ausschluss von Flinta-Personen, ja – das ist giftig. Beim Wording könnte man zum Beispiel einiges umdrehen und nicht den Frauen-, sondern den Männeranteil hervorheben, nicht von Frauenquoten, sondern von Männerlimits sprechen. Wir arbeiten viel mit Gleichbehandlungsbeauftragten zusammen, die manchmal meinen, mit einem bestimmten Wording würden wir Männer womöglich abschrecken, und die uns die Frage stellen, wie wir Männer denn mehr abholen könnten. Aber wir sind über den Punkt hinaus, Männer abholen zu müssen, das funktioniert seit Jahrhunderten nicht. Wir müssen Sie auffordern, mitzumachen. Oder wie die Regisseurin Katharina Mückstein sagt: In einem rassismuskritischen Seminar frag ich ja auch nicht als weißer Dude: Na ja, was habe ich denn jetzt davon? Oder: Oh, könnt ihr mich denn bitte ein bisschen abholen mit eurer Rassismuskritik. Das zeigt, wie absurd das ist. Das sind doch alles Abwehrstrategien.

Disoski: Das erlebe ich auch als Abwehr. Zum Beispiel bei gesetzlichen Rahmenbedingungen für gleiche Karenzzeiten und einer fairen Aufteilung der Care-Arbeit. Das ist in Österreich nur schwerdurchsetzbar, weil es sehr starre Rollenbilder gibt. In den skandinavischen Ländern ist man da viel weiter. Ein Umdenken oder Umverteilen ist mit enorm viel Widerstand und Abwehr verbunden, und es hält sich die Ansicht: Es ist gut so, wie es ist, weil es für einen Teil der Gesellschaft gut so ist und deswegen soll es immer so sein.

Die Grüne Frauensprecherin Meri Disoski.
Meri Disoski: "Männer müssen die Lebensrealitäten von Mädchen und Frauen verstehen."
Sigrun Lillegraven

STANDARD: Bei welchen Themen bröckelt die Abwehrhaltung?

May: Die Kunst ist, Abwehrstrategien wie Mansplaining oder Derailing zu erkennen und so zu benennen, dass die Männer nicht beleidigt aus dem Raum rennen. Dann ist es wichtig, beim Thema Männlichkeit zu bleiben. Ich spreche mit den Teilnehmern ausschließlich über kritische Männlichkeit. Nicht über Frauen, nicht über Inter- oder Transpersonen. Zudem ist es wichtig, dass auch Flinta-Personen mit im Raum sind. Wenn eine Vätergruppe wegen eines Workshops anruft, schlage ich immer vor, dass sie ihre Partnerinnen oder Töchter mitnehmen. Oft fangen Männern an nachzudenken, wenn ihnen klar wird, was sie verpassen. Wenn sie merken, wie monoton diese immer gleichen Geschichten sind, die Männer in die Welt bringen, wie unterfordernd das ist. In den Workshops geben wir ihnen Listen von weiblichen und queeren Produktionen oder Büchern mit, die sie sich ansehen können. Ich habe selbst lange in männlichen Monokulturen gelebt und bin froh, jetzt noch viel anderes kennenzulernen. Diese komplexen und emotional integren Erzählungen sind einfach spannender.

STANDARD: Also Männer müssten auch Kulturgüter konsumieren, die bisher außerhalb ihres Wahrnehmungsradius waren?

May: Auf jeden Fall. Wenn du als Vater nicht vorlebst, dass du einen weiblichen, queeren Freundeskreis hast, dass du ganz selbstverständlich mit Frauen und queeren Menschen auf Augenhöhe redest, ohne sie zu sexualisieren und zu objektivieren; wenn Kinder nicht mit Vätern aufwachsen, die selbstverständlich Sorge- und Hausarbeit machen und die Karriere der Partnerin unterstützen, dann werden die Kids das später auch nicht machen. Es reicht nicht, sich die Fingernägel anzumalen.

STANDARD: Welche Fragen kommen von Männern in Workshops denn regelmäßig?

May: Was neue Männlichkeit oder positive Männlichkeit sei. Ich sag dann immer, weiß ich nicht – wir sehen noch nicht, wie das aussieht. Die Autorin Susanne Kaiser schreibt, sobald Männlichkeit nicht mehr mit Gewalt oder Macht verbunden ist, gibt es keine Männlichkeit mehr. Doch wenn wir so etwas wie Vulnerabilität hernehmen und das männlich branden, dann haben wir einen neuen Abwehrdiskurs.

STANDARD: Inwiefern?

May: Ich halte die männlichen Emotionsdiskurse für problematisch. Ich versuche in meinen Workshops zu vermeiden, dass Männer über ihre Gefühle sprechen. Gefühle zu zeigen ist schon wichtig, aber wenn das nicht in eine Kritik an den Strukturen eingebettet ist, wenn wir nicht parallel über Patriarchat und Feminismus sprechen, dann ist es ein sehr mächtiger Abwehrdiskurs. Die österreichische Politologin Birgit Sauer hat mal geschrieben, das Patriarchat gibt uns gerade das Gefühl, dass sich alle öffnen und über Gefühle sprechen – dass sich dadurch aber die herrschenden Strukturen noch verstärken. Die vielen Männercoaches oder die Annahme, dass Männlichkeit therapiert und geheilt werden kann – das ist gefährlicher Unsinn.

Disoski: Selbst wenn Männer vulnerabel und emotional sind, bringt das nichts, solange die patriarchalen Strukturen in der Gesellschaft dieselben bleiben. Das mag vielleicht für eine Paarbeziehung oder einer freundschaftlichen Beziehung besser sein, aber die systematische Benachteiligung ändert sich dadurch nicht. Wenn man sagt, Familien sollen selbst entscheiden, wie sie sich Care-Arbeit aufteilen, wird sich nichts ändern. Immer dort, wo es keine gesetzlichen Regulatorien gibt, bleiben die Dinge so, wie sie sind. Wir müssen uns die gesellschaftlichen Verhältnisse anschauen und Wege, wie wir es schaffen, mit politischen Rahmenbedingungen Änderungen herbeizuführen. Ein Bild von der Klimakonferenz zeigt einmal mehr die Machtverhältnisse: Zu sehen sind fast nur Männer – erst ganz hinten erkennt man Ursula von der Leyen. Dabei sind Frauen von der Klimakrise stärker betroffen als Männer. Frauen sollten mindestens so stark repräsentiert sein.

Dieser Tweet zeigt Teilnehmer der Klimakonferenz und eine Teilnehmerin. 
Dieser Tweet zeigt Teilnehmer der Klimakonferenz, und eine Teilnehmerin.

(Beate Hausbichler, 13.12.2023)