Wie das "Wall Street Journal" unter Berufung auf nicht genannte US-amerikanische Beamte berichtet, haben die israelischen Streitkräfte damit begonnen, Meerwasser in das unterirdische Tunnelnetzwerk der Hamas zu pumpen. Die Flutungen sind demnach schon länger im Gange, ein genauer Zeitpunkt wird nicht genannt. Auf X, vormals Twitter, kursieren bereits seit der Vorwoche entsprechende die Videos, die allerdings bisher nicht verifiziert sind.

Das Ziel der israelischen Streitkräfte lautet, die Tunnel zu vernichten.
REUTERS/RONEN ZVULUN

Israel hat sich zum Einsatz von Meerwasser bisher nicht offiziell geäußert: Die Pläne unterliegen militärischer Geheimhaltung, immerhin hat die Zerstörung der Hamas-Tunnel für die Armee höchste Priorität. Das ausgeklügelte unterirdische Netzwerk ist das Fundament der militärischen Schlagkraft der terroristischen Gruppierung. Unter der Erde werden unter anderem verdeckt Angriffe geplant und ausgeführt, Raketen verlegt und auch aus Israel entführte Geiseln versteckt. Unterirdische Kämpfe in den engen Tunneln haben die israelischen Streitkräfte bisher vermieden: Denn unter der Erde hätte Israel nicht mehr die Oberhand, dort könnte es zum Blutbad kommen. Doch von außen sind die tief unter der Erde liegenden Tunnel, wie berichtet, nur mit großem Aufwand zu zerstören.

Deshalb wird bereits seit Wochen über einen Einsatz von Salzwasser spekuliert. Vergangene Woche bezeichnete Israels Generalstabschef Herzi Halevi das als "gute Idee". Laut Medienberichten hat Israel schon vor Wochen fünf Pumpen im Norden Gazas unweit des Al-Shati-Flüchtlingsviertels errichtet, mit denen die Tunnel pro Stunde mit tausenden Kubikmetern Salzwasser aus dem Mittelmeer geflutet und offenbar innerhalb einiger Wochen überflutet werden können.

Öffentliches Misstrauen der USA

Eine indirekte Bestätigung, dass Salzwasser zur Zerstörung der Tunnel zum Einsatz kommt, gab es am Dienstag von US-Präsident Joe Biden. Auf Nachfrage eines Journalisten sprach er von Behauptungen, dass nur Tunnel geflutet würden, in denen keine von der Hamas in den Gazastreifen entführten Geiseln vermutet werden. "Aber das kann ich nicht mit Sicherheit sagen", ergänzte Biden und forderte von Israel, dass der Schutz von Zivilisten kein leeres Versprechen sein dürfe.

Bemerkenswert ist das auch deshalb, weil die USA, der engste Verbündete Israels, seit Tagen zwar weiterhin Unterstützung für Israel ausdrücken, vermehrt aber auch Bedenken über das israelische Vorgehen im Gazastreifen kundtun. Biden sprach jüngst auch von langjährigen Differenzen mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Das Gros der Welt stehe hinter Israel, doch die Unterstützung bröckle angesichts wahlloser Bombardierungen, mahnte Biden.

Offenbar noch Testphase

Nach Angabe der vom "Wall Street Journal" zitierten US-Beamten sei Israel vorerst noch dabei, den Einsatz von Meerwasser zur Vernichtung des mehrere Hundert Kilometer langen Tunnelsystems samt abgedichteten Bunkern zu evaluieren. Einige Beamte der Biden-Regierung sind demnach besorgt, dass das Vorgehen die Trinkwasserversorgung im Gazastreifen gefährden könnte. Andere zeigten sich zuversichtlich, dass auf diesem Wege ein Teil des Netzwerks, das unter urbanem Gebiet und zahlreichen zivilen Einrichtungen verläuft, effektiv zerstört werden könne.

Video: Die israelische Armee hat Ende November Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt bei einer Tour ein Tunnelsystem unter dem Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt präsentiert, in dem sich Hamas-Kämpfer versteckt haben sollen. Dort wurden den Angaben zufolge auch zahlreiche Waffen gefunden.
AFP

In Israel ist das Vorhaben durchaus umstritten. So haben aus Hamas-Gefangenschaft befreite Israelis und Angehörige von Geiseln in einer geleakten Aufnahme darüber Sorge geäußert: Sie warfen Netanjahu jüngst bei einem Treffen vor, nicht genug für die Befreiung der Geiseln zu tun, und das Vorgehen der israelischen Streitkräfte gefährde die Geiseln. So seien Geiseln unter israelischen Beschuss gekommen. In der Tonaufnahme wird die Befürchtung geäußert, dass man nicht nur durch Luftschläge, sondern auch durch die Flutung der Tunnel die verbliebenen mehr als hundert Geiseln gefährden könnte, weil den Geheimdiensten augenscheinliche Informationen über die Aufenthaltsorte der von der Hamas Verschleppten fehlten.

Geiselfamilien und Umweltschützer besorgt

Auch aus ökologischer Sicht ist die Methode bedenklich: So gibt es Befürchtungen, dass dadurch landwirtschaftliche Böden unfruchtbar würden. Als Ägypten 2015 Meerwasser nutzte, um von Schmugglern betriebene Tunnel unter dem Grenzübergang Rafah zu fluten, beschwerten sich Bauern über beschädigte Felder, Erdlöcher und verlorene Ernten.

Wie ein israelischer Umweltforscher der "Times of Israel" sagte, könnten große Mengen Meerwasser in der Tat auch die Grundwasserversorgung im extrem dicht besiedelten Gazastreifen für mehrere Generation gefährden. Zwar bestünde keine Gefahr für die Versorgung Israels, doch es sei fragwürdig, ob die Zerstörung natürlicher Ressourcen moralisch vertretbar sei, sagte der Wasserexperte Eilon Adar von der Ben-Gurion-Universität des Negev. Ein weiterer nicht genannter Forscher sieht dagegen durchaus Gefahren für israelische Brunnen unweit des Gazastreifens aufgrund des porösen Sandbodens.

Die mehr als zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens leiden ohnehin schon unter Wasserknappheit und schlechter Wasserqualität, da die niedrigen Wasserstände in der Grundwasserschicht bereits zu einer Vermengung mit Meerwasser führen. Die Palästinensische Wasserbehörde reagierte in der Vorwoche alarmiert auf mögliche Pläne, die Tunnel mit Salzwasser zu fluten: Dies könne zu einer Beschädigung und Verdünnung des Sandbodens und damit zu einem Absinken der Böden in vielen Gebieten des Gazastreifens führen. Dadurch drohe eine Einsturzgefahr für die verbliebenen Häuser, Gebäude und Infrastruktur. Der Anstieg des Salzgehalts würde Böden zudem unkultivierbar machen.

Kämpfe im Norden

Warum die Zerstörung der Tunnel für eine Niederlage der Hamas aus israelischer Sicht so wichtig bleibt, zeigen derweil die aktuellen Kämpfen im Norden so wie im Süden des Gazastreifens. Dadurch, dass nach "Haaretz"-Informationen noch zahlreiche Tunnel intakt und die Kampfgebiete dicht verbaut seien, könnten Hamas-Kämpfer israelische Soldaten aus dem Hinterhalt angreifen und aus nächster Nähe in Feuergefechte verwickeln. Da bringe auch der große technologische und geheimdienstliche Vorsprung Israels nicht viel, argumentiert Militärexperte Amos Harel in der Zeitung "Haaretz". (Flora Mory, 13.12.2023)