Charlotte Mullins erweitert die eurozentrische Betrachtung der Kunstgeschichte um Werke anderer Kulturen sowie von Künstlerinnen. Das "Porträt der Madeleine" von Marie-Guillemine Benoist zeigte erstmals eine schwarze Frau als Individuum.
2003 Musée du Louvre / Angèle Dequier

Die Geschichte der Kunst aus einer zeitgenössischen Perspektive zu erzählen muss als komplexer Kraftakt verstanden werden. Ein Standardwerk mit 450 Seiten vorzulegen – dabei den klassischen Kanon zu beachten und zugleich mehr Diversität (die es gab, aber lange ignoriert wurde) einzuarbeiten – ist beachtenswert. Nachdem Katy Hessel 2022 mit ihrem erfolgreichen Band The Story of Art – without Men ausschließlich Künstlerinnen in den Fokus rückte, legt nun Charlotte Mullins nach.

Die in London lebende Kunstkritikerin, die unter anderem für die BBC arbeitet, spannt in ihrem zuletzt auf Deutsch erschienenen Buch Die Geschichte der Kunst. Neu erzählt von Charlotte Mullins einen Bogen von den allerersten Funden 17.000 Jahre alter Höhlenmalereien bis zu heutigen Erscheinungen der sich rasant wandelnden Kunstwelt wie NFTs. Dazwischen ergänzt sie den westlichen, gängigen Kanon mit Kunstwerken des Globalen Südens und beleuchtet verstärkt Künstlerinnen sowie People of Color.

In kurzen Kapiteln reist man rasant durch die Kunstgeschichte, wobei darin recht abrupt zwischen diversen Schauplätzen innerhalb einer Epoche gesprungen wird. Dies stört aber nicht weiter, vielmehr dient es als erfrischendes Stilmittel. Staubtrockene historische Rückblicke werden durch szenische Passagen ersetzt, wodurch Leben eingehaucht wird. Gähnen muss man bei dieser Lektüre auffallend selten.

Rasante Sprünge

So wechselt man von der chinesischen Terrakotta-Armee, die zwischen 246 und 210 vor Christus als Teil eines riesigen Mausoleums gefertigt wurde, zu aus Ton geschaffenen Skulpturen der Nok-Kultur in Nigeria. Heute sind von den teils über einen Meter hohen Figuren, die über individuelle Gesichtszüge verfügen, primär nur noch Köpfe erhalten. Wahrscheinlich zur gleichen Zeit entstand in Europa die Laokoon-Gruppe aus Marmor, die heute in Rom zu bestaunen ist.

Dieses Gefühl der Gleichzeitigkeit eröffnet ganz neue Narrationsebenen, die sich auch auf religiöse Stätten beziehen. Neben den in Europa tradierten Christusdarstellungen präsentiert Mullins Kalksteinreliefs eines Maya-Tempels oder Buddha-Figuren einer gigantischen Anlage im indonesischen Java. Spannend sind Vergleiche zwischen den Glaubensrichtungen, beispielsweise wie mit Heiligen-Abbildungen umgegangen wurde. Während die bildlichen Darstellungen oft eine Stärkung des Glaubens bedeuteten, wurden sie im 8. Jahrhundert unter Kaiser Leo III. im gesamten Byzantinischen Reich verboten.

Diese Erweiterungen fühlen sich jedenfalls nicht erzwungen an, manche zeitlichen Abschnitte erinnern auch an klassische Kunstgeschichte-Bände. So wird an die europäische Kunstepoche der Renaissance eine Ausführung gereiht, die berichtet, wie der Maler Gentile Bellini an den Hof von Sultan Mehmet II. nach Konstantinopel kam und dort ein prägendes Porträt des Gastgebers schuf.

Selbstverständlichkeiten

An mehreren Stellen werden solche Wege europäischer Einflüsse auf Stile anderer Kulturen nachverfolgt. Wobei natürlich auch spätere Kolonialbeziehungen samt Plünderungen und Raubzügen eine bedeutende Rolle spielen, die ebenfalls beleuchtet wird.

Charlotte Mullins
Auf 450 Seiten spannt Charlotte Mullins einen Bogen von den allerersten Funden 17.000 Jahre alter Höhlenmalereien bis zu heutigen Erscheinungen der sich rasant wandelnden Kunstwelt wie NFTs.
C. H. Beck

Ab dem 16. Jahrhundert lässt die Autorin generell Künstlerinnen den Vortritt, so kommt die italienische Malerin Sofonisba Anguissola noch vor Tizian an die Reihe. Es folgen Werke von Barockkünstlerinnen wie Lavinia Fontana oder Artemisia Gentileschi, die selbstverständlich neben Caravaggio und Carracci präsentiert werden.

Besonders interessant ist beispielsweise eine Anekdote über das Porträt der Madeleine von Marie-Guillemine Benoist, das 1800 im Pariser Salon ausgestellt wurde und als eine Ausnahmeerscheinung galt. Im Glanz ihrer Individualität wie die darauf porträtierte junge Frau war damals noch nie eine schwarze Person dargestellt worden.

Politisch und poppig

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekommt dann vor allem politische Kunst einen hohen Stellenwert. Das fängt bei feministischen Künstlerinnen der 1970er-Jahre an und setzt sich mit den Guerrilla Girls, Vertreterinnen der US-Bürgerrechtsbewegung wie Carrie Mae Weems bis zur iranischen Exilantin Shirin Neshat sowie der Popsängerin Beyoncé in die Gegenwart fort. Letztere hat mit ihrem Mann Jay-Z 2018 für das Musikvideo zu Apeshit im Pariser Louvre performt.

Leider nimmt die Dichte und Dynamik gegen Ende des Bandes deutlich zu, viele bedeutende Kunstschaffende werden nur noch aufgezählt. Der anfänglich erwähnte Exkurs zu digitalen Entwicklungen wie NFTs oder künstliche Intelligenz in der Kunst werden lediglich auf der letzten Seite erwähnt. 50 zusätzliche Seiten hätten dieser wichtigen Neubetrachtung der Kunstgeschichte bestimmt nicht geschadet. (Katharina Rustler, 14.12.2023)