Telefonieren, Texten
1963 sah Telefonieren noch so aus – wie hier im Film "Bye Bye Birdie". Heute hat ein Drittel der Zehn- bis 18-Jährigen noch nie etwas von Telefonen mit Wählscheiben gehört.
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Annette Hermann mag es nicht, wenn sie unangekündigt angerufen wird. Noch dazu, wenn es eine Nummer ist, die sie nicht kennt. "Da möchte ich meistens nicht rangehen", sagt die 27-Jährige, die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien studiert. In ihrem Freundeskreis sei es unüblich, dass man sich ohne Vorankündigung per Textnachricht anruft. "Wenn das doch passiert, denke ich sofort, dass etwas passiert ist", sagt Hermann. Anrufe bei Behörden und Ämtern empfinde sie meistens als stressig. Bei Ärztinnen und Ärzten schätze sie es, wenn sie den Termin online reservieren kann.

Mit ihrer Abneigung zum Telefonieren ist Hermann nicht allein. Soziale Medien sind voll von Influencerinnen und Influencern, die über ihre Angst vor dem Telefonieren sprechen. Über den Frust, wenn man sich eine halbe Stunde auf ein Gespräch vorbereitet und dann doch keiner abhebt. Über die Nervosität vor Anrufen bei Behörden und Ämtern. Über das unangenehme Gefühl, unangekündigt angerufen zu werden und lieber nicht abzuheben.

Wachsender Trend

Dass Telefonieren gerade unter jungen Menschen immer unbeliebter wird, zeigen regelmäßige Umfragen zu dem Thema. Laut einer aktuellen repräsentativen Studie von Sky Mobile, bei der 1.000 Menschen im Alter von 18 bis 24 Jahren in Großbritannien befragt wurden, vermeidet es rund ein Viertel aktiv, zu telefonieren. Rund ein Drittel gab an, dass sie Telefonate unangenehm finden, ein Viertel würde nie jemanden unangekündigt anrufen und mehr als zwei Drittel tauschen sich lieber über Whatsapp, iMessage oder Snapchat aus, anstatt zu telefonieren.

Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in Österreich. Während die Gesprächsminuten hierzulande kontinuierlich zurückgehen, steigt die Datennutzung immer weiter an. Das Smartphone wird zwar immer mehr genutzt – aber immer weniger zum Telefonieren. Wenn telefoniert wird, dann in zwei Dritteln der Fälle über das Internet, wie Daten der RTR zeigen. Laut einer Studie des Digitalverbands Bitkom verbringen 16- bis 18-Jährige jeden Tag knapp drei Stunden über das Smartphone oder andere Geräte im Netz. Von Relikten aus vergangenen Zeiten, wie beispielsweise Telefonen mit Wählscheibe, hat ein Drittel der Zehn- bis 18-Jährigen noch nie gehört.

Zeit und Nerven sparen

"Telefonieren wird von einigen jungen Menschen als Störung empfunden, die man nicht mehr gewohnt ist", sagt Gerit Götzenbrucker, Medien- und Kommunikationswissenschafterin an der Universität Wien. Anrufe der Eltern und Großeltern werden zwar meist noch toleriert. Unter Freundinnen und Freunden gelte jedoch häufig das ungeschriebene Gesetz, dass unangekündigte Anrufe als unhöflich gelten. Im Vergleich dazu seien Textnachrichten kürzer, flexibler und sparen Zeit und Nerven.

Als "Erreichbarkeitsdilemma" bezeichnet die Wissenschafterin das Phänomen, das mit dieser Entwicklung zusammenhängt: "Junge Menschen haben das Smartphone fast ununterbrochen bei sich und wollen gerade deshalb besser kontrollieren, wann sie erreichbar sind und wann nicht", sagt Götzenbrucker. Denn während ein Anruf häufig als Überrumpelung wahrgenommen werde, der eine Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt erfordere, kann man auf Text- oder Sprachnachrichten auch später – oder gar nicht – antworten.

Freunde tracken

"In unserem Freundeskreis halten wir uns meistens mit Sprachnachrichten in Whatsapp-Gruppen auf dem Laufenden", sagt Hermann. Darin erzähle jeder von seinem Tag und von persönlichen Erlebnissen und Gedanken. Zudem wisse sie auch über die "Wo ist?"-App beim iPhone meistens, wo sich ihre Freundinnen und Freunde gerade befinden und was sie gerade machen. "Meistens brauchen wir uns dann nicht mehr mit Telefonaten updaten, weil wir sowieso immer auf dem aktuellen Stand sind", sagt Hermann. Sollte sie doch jemanden anrufen wollen, frage sie immer davor per Textnachricht nach, ob es gerade ein günstiger Zeitpunkt ist oder nicht.

Ähnlich berichtet es die Studentin Marie Turba aus Wien. "Kurze Telefonate würde ich bei Menschen, die ich nicht kenne, eher vermeiden. Da schreibt man lieber eine Nachricht", sagt sie. Am unangenehmsten sei es für sie, wenn man angerufen wird und die Nummer nicht kennt. Das löse Stress in ihr aus, da man sich nicht darauf einstellen kann, wer auf der anderen Seite ist und was einen erwartet. Man habe keine Bedenkzeit und müsse spontan antworten. Gespräche mit Freunden oder Familie vereinbare sie davor stets per Nachricht. "Ich möchte andere mit einem Anruf auch nicht stören", sagt sie.

Sich einem Risiko aussetzen

"Jemanden anzurufen heißt immer, sich einem Risiko auszusetzen", sagt Peter Vorderer, Psychologe und Kommunikationswissenschafter an der Universität Mannheim. Beispielsweise dem Risiko, enttäuscht zu werden, wenn die Person nicht abhebt, oder der Gefahr, die Person in einem ungünstigen Moment zu erreichen oder während des Gesprächs im falschen Moment das Falsche zu sagen.

Im Vergleich dazu erlauben Text- oder Sprachnachrichten mehr Kontrolle: Darüber, wann man etwas loswerden kann, wie man den Inhalt formuliert, welches Bild man sich von der Person machen kann und wie sehr man sich auf seinen Gesprächspartner einlassen kann oder muss. "Telefonieren geht sich nicht mehr aus in einer Zeit, in der Kommunikation praktisch permanent und überall stattfindet", sagt Vorderer.

Telefonieren am Ende angelangt

Heißt das, dass die Kultur des Telefonierens bald an ihr Ende kommt? Oliver Ruf, Professor für Medientheorie und Mediengeschichte an der Hochschule Bonn Rhein-Sieg, glaubt das. "Telefonzellen sind bereits alle abgeschafft, es gibt nur noch einige wenige, die Festnetztelefonie nutzen – der Kampf dauert noch an, aber ich denke, dass die Geste des Telefonierens an ihrem Ende angelangt ist", sagt er.

Ein bisschen wehmütig scheint Ruf über diese Entwicklung schon zu sein. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Geschichte des Telefonierens: mit einer Zeit, in der Menschen noch zu einem Hörer mit Kabel griffen, um mit anderen in Verbindung zu treten, in der Telefonieren noch fest mit bestimmten Zeiten und Räumen verbunden war und in der vor dem Abheben niemand genau wusste, wer gerade anruft.

Telefonieren, Bell
Lange ist es her, dass Alexander Graham Bell 1892 die "New York–Chicago line" so eröffnete.
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Fassade erschaffen

"Telefonieren ist eine Kommunikation, die zeitgleich stattfindet, bei der die Gesprächspartner spontan sein, gemeinsam Gedanken entwickeln und sich unmittelbar mit dem anderen und mit sich selbst konfrontieren müssen", sagt Ruf. Telefonate nicht zuzulassen bedeute, eine Hülle zu erschaffen – eine Grenze und Distanz, die andere nicht überschreiten sollen. Ein unerwartetes Telefonat könne dann wie eine Verletzung wahrgenommen werden, bei der diese Schutzhülle durchtrennt wird.

"Management der Privatsphäre" nennt Götzenbrucker das. "Vor allem jungen Menschen geht es sehr stark darum, wie sie sich auf der Bühne des Lebens präsentieren", sagt sie. Mithilfe von Text- und Sprachnachrichten könne man diese Fassade nach außen besser bewahren als im spontanen Telefonat. "Man bewegt sich auf einer bequemen Halbdistanz: immer mit genug Abstand, um mit vielen Menschen an unterschiedlichen Zeiten und Orten in Kontakt zu sein", sagt Götzenbrucker.

Kulturpessimismus ist dennoch nicht angebracht. Schließlich haben sich auch die Ängste, wonach das Telefonieren oder E-Mails zu einem Qualitätsverlust bei der Kommunikation führen würden, nie bewahrheitet. Andererseits ließe sich ein solcher Qualitätsverlust auch schwer objektiv messen.

Mehr Freiheiten

"Neue Kommunikationsformen haben alte nie sofort verdrängt", sagt Vorderer. Für das Telefonieren werde es auch in Zukunft weiter Bedarf geben. Beispielsweise, wenn es darum geht, eine schnelle Antwort zu bekommen. Dass es heute viel mehr Kommunikationsmöglichkeiten gibt, biete auch mehr Freiheiten: dafür, unangenehme Themen über eine Nachricht leichter loszuwerden und einfacher und schneller zu kommunizieren.

Vorderer sieht aber auch Risiken – vor allem in einer Zukunft, in der Kommunikation zunehmend von künstlicher Intelligenz (KI) geprägt ist. "Kommunikation wird dadurch immer unsichtbarer und versteckter", sagt er. Wer wo mit wem spricht – und ob es sich beim Gegenüber überhaupt noch um einen Menschen handelt –, werde immer weniger erkennbar. "Das wird noch ein großer Abenteuerritt", sagt Vorderer.

Annette Hermann sieht in Sprach- und Textnachrichten jedenfalls keinen Verlust an Intimität. Ganz im Gegenteil: "Von meinen besten Freundinnen und Freundin weiß ich durch ihre Sprachnachrichten meistens sehr genau, wie es ihnen geht und was sie gerade beschäftigt", sagt sie. Auch Videoanrufe seien meist persönlicher als klassische Anrufe. "Es ist angenehmer, wenn man sich sieht, anstatt mit dem Handy am Ohr zur Wand zu reden", sagt sie. Lediglich die Großeltern rufe sie noch auf dem Festnetz an – ausnahmsweise auch ohne Vorankündigung. (Jakob Pallinger, 17.12.2023)