Milli Vanilli
Eine Szene aus "Girl You Know It’s True": Milli Vanilli bei einem Auftritt auf MTV. Die Haare schön, die Choreo sitzt. Band läuft!
LEONINE

Ende der 1980er-Jahre hatte sich mit dem Musiksender MTV nicht nur die Kunst der Videoclips durchgesetzt. Sie machte Künstler und Künstlerinnen wie Madonna, Prince, Michael Jackson oder Duran Duran zu Weltstars, ohne dass dafür jahrelange Tourneen nötig gewesen wären. Wie das Biopic Girl You Know It’s True über Aufstieg und Fall des Duos Milli Vanilli zeigt, spielte in der Nachfolge von Boney M. in den 1970er-Jahren auch ein Produkt aus der deutschen Popprovinz eine wesentliche Rolle.

KinoCheck

Der gelernte Koch Frank Farian hatte als Diskothekenbesitzer gelernt, was beim Publikum ankommt. Mit Ausnahme der USA landete er als Mastermind und Produzent nach einer kurzen Karriere als Schlagersänger (Rocky!!!) mit dem Quartett Boney M. bis 1986 weltweit Hits wie Rivers of Babylon, Daddy Cool, Ma Baker, Mary’s Boy Child oder Brown Girl in the Ring. Milli Vanilli schließlich sollten als Krönung seines Lebenswerks ab 1988 endlich auch den amerikanischen Markt erobern. Das taten sie, aber wie.

Unter der Regie von Simon Verhoeven (Willkommen bei den Hartmanns) ist mit Girl You Know It’s True eine Arbeit entstanden, die zwar mit den braven (und wohl auch finanziellen) Mitteln eines deutschen Fernsehfilms im Hauptabendprogramm arbeitet. Allerdings bietet diese Geschichte des größten Popskandals der 1990er-Jahre einen perfekten Anlass für ein kurzes Innehalten.

"Bigger than life"

Man kann sich angesichts des kurzen Erfolgs des Duos mit Hits wie Girl You Know It’s True, Baby Don’t Forget My Number und I’m Gonna Miss You heute auch dank KI und eines toten Johnny Cash, der aktuell recht glaubhaft Barbie Girl singt, diese Frage stellen: Wie viel "Authentizität" verträgt oder benötigt Popmusik mit der Grundvoraussetzung eines "Bigger than life", beziehungsweise warum lassen sich im Zweifel Schein und Sein leichter verkaufen, aber auch konsumieren als wahrhaftige Künstler?

Schon bei Boney M. war allgemein bekannt, dass von den vier Mitgliedern nur zwei tatsächlich im Studio sangen. Die Gesangsspur des schwarzen Tänzers Bobby Farrell etwa stammte von Farian selbst. Egal.

Auch der deutsche Robert "Rob" Pilatus und der Franzose Fabrice "Fab" Morvan hatten ihre Karriere als Tänzer in der Münchener Nobeldisco P1 mit dem leisen Verdacht gestartet, dass aus ihnen nicht die neuen Michael Jacksons werden würden. Sie konnten zwar trotz aller tapferen Bemühungen nicht singen, allerdings schauten sie gut aus und hatten die Haare schön, ein damals wie heute wichtiges Kriterium. Die Menschen, die die Lieder unter dem Diktat Frank Farians tatsächlich zu kräftigen Beats einsangen, die etwa auch 1990 bei Snap! und The Power zu hören waren, besaßen zwar die Stimmen. In der Welt von MTV wäre ihnen allerdings rein optisch definitiv keine Chance, etwa für die ihnen später aberkannten Grammys eingeräumt worden. Ausnahmen wie damals Phil Collins bestätigten die Regel.

LEONINE Studios

Milli Vanilli wurden für zwei Jahre lang auf MTV mit einer gefälligen Mischung aus sauberem Soul und gängiger Großraumdisco zu Superstars. Was nun tatsächlich der Wahrheit in dieser Verfallsbiografie entspricht, bleibt auch im Film unklar. Es gibt dazu verschiedene Sichtweisen aller damals wie heute im Film als Mitproduzenten Beteiligten. Simon Verhoeven lässt die beiden sympathischen Hauptdarsteller Tijan Njie und Elan Ben Ali als Milli Vanilli "ihre" Geschichte von der Kinoleinwand herab dem Publikum direkt face to face, allerdings wohl im Hinblick auf die manipulative Rolle Frank Farians (gespielt von Matthias Schweighöfer mit dramatischer Perücke) etwas vorsichtig erzählen. Der Teufel und die Anwälte schlafen nicht.

Die Auftritte Milli Vanillis, die immer wieder auch selbst ans Mikro wollten, aber von Frank Farian aus nachvollziehbar guten Gründen abgelehnt wurden, fanden im Vollplayback statt. Pilatus und Morvan bewegten dazu nur synchron die Lippen. Dafür genossen sie das Popstar-Dasein in vollen Zügen, mit Koks, mit Frauen und mit zunehmendem Größenwahn. Im Herbst 1990 blieb bei einem "Konzert" in den USA schließlich das Playback hängen. Das Publikum und die angeblich nichts ahnende US-Plattenfirma gaben sich entsetzt. Milli Vanilli wurden zu Geächteten. Aus. Vorbei.

Fab Morvan hat überlebt. Er macht heute im bescheidenen Rahmen selbst Musik. Rob Pilatus starb 1998 verarmt und vergessen an einer Überdosis. Frank Farian (82) ist weiterhin aktiv, wenn auch kommerziell sehr bescheiden. Ihm ist nichts passiert. Er hat in seinem Leben, unter anderem dank Boney M. und Milli Vanilli, kolportiert an die 800 Millionen Platten verkauft: "Girl You Know It's True". (Christian Schachinger, 19.12.2023)

Ab Donnerstag, 21.12., im Kino