Laura Untner und Julius Handl.
Sprechen gerne über Literatur: die Literaturwissenschafterin Laura Untner und der Autor Julius Handl.
Hannah Gehmacher

"Messer im Kopf – ich denke da ja sofort an Migräne!" Ein leichtes Schmunzeln geht durch die Runde. Der Ausdruck stehe eher für die quälenden Zweifel beim literarischen Schreiben, antwortet der Lyriker Philipp Hauser auf den Kommentar einer Teilnehmerin. In den Gesichtern rundherum spiegeln sich daraufhin unterschiedliche Reaktionen: skeptisches Stirnrunzeln, zustimmendes Nicken, nachdenklich wandernde Blicke und überrascht gehobene Augenbrauen.

Kalter Herbstabend

Es ist ein kalter Herbstabend in der Wiener Burggasse. In der Buchhandlung zum Gläsernen Dachl sitzt ein Dutzend junger Menschen auf zusammengewürfelten Holzbänken, Fauteuils und Sesseln in einem Kreis; über ihnen an der Decke das namensgebende, schon etwas trüb gewordene bunte Glasfenster. Die Atmosphäre bei der 73. Ausgabe des Formats Gläserne Texte, einer offenen Literaturkritikrunde, ist entspannt und gemütlich, auf einem Tisch an der Seite warten Weingläser und -flaschen. Bei den Gläsernen Texten stellen vor allem junge und angehende Autorinnen und Literaturbegeisterte ihre Texte vor und besprechen sie mit gleich- und vor allem wohlgesinnten Kollegen.

Die Gedichte von Hauser, dem diesjährigen Sieger des Kärntner Lyrikpreises, der sich der Runde auch sehr selbstbewusst als solcher vorstellt, werden heute genauso kritisch befragt und besprochen wie die ersten Versuche der jungen Schriftstellerinnen.

Das erste Mal vor Publikum

Bei den Gläsernen Texten können alle, die wollen, ungefähr fünf bis zehn Minuten lang aus ihren Arbeiten lesen; Vorrang haben jene, die zum ersten Mal teilnehmen. Nach dem Vortrag werden konstruktive Kritik und Anmerkungen beigesteuert. Für einige ist es das allererste Mal, dass sie mit einem kreativen Werk an ein Publikum herantreten. Andere wiederum sind etablierter im Betrieb, mit mehreren Publikationen und größerer Routine. Heute findet sich neben Hauser beispielsweise auch der Lyriker Timo Brandt in der Runde, Autor mehrerer Gedichtbände, Absolvent des Sprachkunststudiums an der Universität für angewandte Kunst in Wien und auch regelmäßigen STANDARD-ALBUM-Lesenden kein Unbekannter: Brandt verantwortet die Auswahl der Gedichte, die hier wöchentlich abgedruckt werden.

Dieser Mix aus Hobbyschreibenden und etablierten Autoren ist eines der Anliegen der Gläsernen Texte. So soll eine Lücke im Literaturbetrieb geschlossen und ein Forum geboten werden, das zwischen Literaturbegeisterten und Schriftstellerinnen, die sich an unterschiedlichen Punkten ihrer Karriere befinden, vermittelt.

Laura Untner, Literaturwissenschafterin und Co-Organisatorin, erklärt: "Wir haben gemerkt, dass es in der Literaturszene gewisse Türen gibt, die schwer aufzumachen sind. Vor allem für Personen mit wenig Erfahrung. Die Gläsernen Texte sind ein niederschwelliges Angebot. Gleichzeitig kooperieren wir regelmäßig mit diversen größeren Literaturveranstalter:innen und -institutionen. Es ist ein Nebeneinander, ein gegenseitiges Ergänzen mit gegenseitiger Wertschätzung."

Prominentes Feedback

Seit 2016 läuft das Projekt, auch abseits des Literaturkritikformats: Die Gläsernen Texte veranstalten zusätzlich größere Lesungen; mehrmals pro Jahr gibt es Sonderausgaben des Formats, zuletzt mit prominenten Namen wie etwa Josef Winkler und Yoko Tawada. "Das ist einzigartig – wo sonst kann man Rückmeldung auf eigene Texte von prominenten Autor:innen bekommen?", so Untner.

Heuer erschien der Sammelband Gläsern und Glänzen in der Edition Lex Liszt 12, zu dem auch Frieda Paris und Tara Meister Texte beigesteuert haben. Im Frühjahr 2024 erscheinen ihre Debüts.

Untner und Handl erzählen, dass seit Beginn des Projekts ungefähr 700 Texte die Gläsernen Texte durchlaufen haben, doch Erfolg wird hier nicht über Quantität definiert: "Grundsätzlich glauben wir, dass der Erfolg eines solchen Formats sich eher darin zeigt, welche Gedanken in den Teilnehmer:innen weiterarbeiten, wenn sie von den Veranstaltungen heimgehen."

Sprungbrett

Nach mehr als sieben Jahren der großteils ehrenamtlichen und unbezahlten Tätigkeit sind die Gläsernen Texte ein zurückhaltend-bescheidener, aber nicht zu unterschätzender Player in der Wiener Literaturszene geworden: "Von Zeit zu Zeit können wir regelmäßige Teilnehmer:innen durchaus für potenzielle Publikationen und Lesungen vermitteln. Wir kennen sie und ihre Texte ja meist sehr gut und können passende Empfehlungen aussprechen. Die Plattform ist dahingehend auch ein Sprungbrett."

Dennoch wollen die Gläsernen Texte an ihren nicht-kommerziellen Prinzipien und ihrem Verständnis von Literatur, das nicht markt- und nutzenorientiert ist, festhalten: "Man kann sich ruhig Zeit lassen", sagt Initiator und Co-Organisator Julius Handl. Die Literatur sei kein Wettlauf. Ihm geht es vor allem um eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Sprache und Form: "Vielleicht zuerst ans aufmerksame Lesen denken. Dem eigenen Schreiben Entwicklung ermöglichen. Der Zwang zur Veröffentlichung und auch die Euphorie, die damit einhergeht, sind nicht unbedingt gut für die Literatur und auch nicht immer für die Individuen."

Die Gläsernen Texte stellen sich bewusst auch ein Stück weit gegen die Kommodifizierung literarischer Produktion. Handl: "Es gibt die Idee, dass Schreiben verkäuflich sein muss, fast als wäre es sonst gar nichts wert. Dieser Mechanik wollen wir uns ein wenig entziehen."

Fokus Schreibprozess

Handl und Untner lernten einander beim Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft an der Universität Wien kennen. Mittlerweile ist Handl Literaturkritiker und -vermittler, Untner arbeitet als Literaturwissenschafterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Belesenheit, Fachexpertise und eine gewisse wissenschaftliche Gelassenheit der beiden strukturieren und färben die Atmosphäre. Denn indem Untner und Handl explizit von Textverfahren, Figuren und literarischen Effekten sprechen, lenken sie die Aufmerksamkeit weg von dem schreibenden Individuum und hin auf den Schreib- und Rezeptionsprozess. Dies macht Kritik auch für Teilnehmende leichter verdaulich, da nicht Autor oder Autorin "besprochen" werden, sondern der Text. In den Feedbackrunden weisen Untner und Handl kompetent auf vielleicht unbeabsichtigte intertextuelle Verweise in den Texten hin, beschreiben und kontextualisieren literarische Stilmittel und spiegeln den Schreibenden eloquent die Wirkung ihrer Texte.

Veranstaltung Gläserne Texte
Veranstaltungen der Gläsernen Texte sind gut besucht.
Martin Anton-Mueller

Max Pohanka, von Beruf Copywriter und Redakteur, hat zwar reichlich Erfahrung mit Textarbeit, doch hat er sich noch nie mit einem kreativen Text vor ein Publikum gewagt. Die Runde diskutiert über die Wirkung des Protagonisten in Pohankas Kurzgeschichte über einen Tag im Leben eines Flaneurs – manche finden die Figur sympathisch, andere wieder auf eine interessante Art und Weise abstoßend. Ein Teilnehmer der Runde merkt an, dass es dem Text an Schwung fehle: "Ich warte die ganze Zeit darauf, dass etwas passiert." Pohanka lauscht aufmerksam und nickt. Die Kritik ist für ihn motivierend: "Das Präsentieren ist mit großer Nervosität verbunden, es hat aber auch etwas Befreiendes. Ich habe lange und viel an dem Text gewälzt. Ich freue mich, dass Leute etwas dazu sagen können und wollen, freue mich auch über die widersprüchlichen Reaktionen. Ich werde über das Gesagte nachdenken und es vielleicht in eine neue Version einarbeiten."

Strukturelle Probleme

Julia G., Studentin der vergleichenden Literaturwissenschaft, trägt heute ein Gedicht namens Spiegel im Spiegel vor. Die Runde diskutiert die Bedeutung und Wirkung verschiedener Bilder im Gedicht, man rätselt besonders über die Bedeutung der Formulierung "Freund aus dem Süden": ein lieber Mensch aus einem südlichen Land? Ein guter Wind? Die Sonne? Untner räumt ein: "Überleg dir gut, ob du das beantworten willst." Schließlich ist Lyrik besonders subjektiv und darf Interpretationssache bleiben. Handl fügt hinzu: "Generell gilt, dass niemand Fragen beantworten oder sich rechtfertigen muss." Zuletzt bespricht die Runde, ob das Wort "Rekapitulation" in Julias sonst sehr feinfühliges, leichtfüßiges Gedicht passt. Handl meint, es wirke etwas schief. Julia ist am Ende zufrieden und erleichtert. Der Besuch der Gläsernen Texte war für sie eine Möglichkeit, Schreibblockaden zu überwinden: "Ich wollte mich jetzt einfach mal wieder ins kalte Wasser hauen. Ich hatte eine Phase, wo es nicht so gut gelaufen ist mit dem Schreiben, und heute war eine Möglichkeit, mich auch zu zwingen, da wieder hineinzukommen."

Wenngleich die 73. Ausgabe der Reihe von Studierenden dominiert ist – etwa die Hälfte hebt bei Nachfrage die Hand –, so ist das Format nicht als bürgerlich-akademischer Lesekreis gedacht. Untner meint: "Wir kennen die Hintergründe der meisten Teilnehmer:innen nicht, aber können davon ausgehen, dass sie nicht geschlossen aus den Germanistikhörsälen zu uns kommen. Nicht selten haben wir mehrsprachige Texte beziehungsweise solche, die offen kapitalismus-, klassismus- und/oder rassismuskritisch sind oder von entsprechenden Erfahrungen handeln."

Volle Aufmerksamkeit

Im deutschsprachigen Literaturbetrieb gebe es ein strukturelles Diversitätsproblem, dem die Gläsernen Texte durch ein kostenfreies Angebot entgegenwirken möchten. "Da wir nicht wirklich werben, laden wir, wo immer wir eben können, grundsätzlich alle ein, die wenig Möglichkeit haben, ihre Texte mit anderen zu teilen. Unser Fokus liegt auf dem Raum, in dem wir lernen, in dem wir den Umgang mit Texten ermöglichen wollen. Für uns knüpft das an an einen Literaturbegriff, der eher vom Text als seinem:r Autor:in ausgeht", so Untner.

In der mittlerweile warmen Stube der Buchhandlung liest Teilnehmerin Maja einen Text über die Ohnmacht angesichts der aktuellen Situation in Israel und Gaza. Niemand schaut zwischendurch auf ein Handy oder einen Laptop, fotografiert oder denkt auch nur daran, zu posten; das leise Plätschern der Tastatur der anwesenden Journalistin ist die einzige Ablenkung. Eine außergewöhnliche, intime, fast meditative Situation, in der aufmerksames Zuhören und ein Sich-aufeinander-Einlassen im Zentrum stehen. Das ist es, was die Gläsernen Texte am stärksten auszeichnet. (Olja Alvir, 17.12.2023)