Kinder spielen Völkerball bzw. Abschießen
Völkerball im Turnsaal oder auf dem Sportplatz: Eine Mehrheit hat Spaß daran, eine Minderheit nicht.
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"Gerade in dieser Zeit", schreibt Alois Schuh, "sollte Völkerball jede Spielberechtigung verloren haben." Unter vielen Reaktionen, die der STANDARD kürzlich auf eine Geschichte zum Thema Völkerball erhielt, ist diese besonders bemerkenswert. Denn Alois Schuh war 1995 ein "frischgebackener Bezirksschulinspektor in Amstetten", als er "mit großem Einsatz versuchte, das damals im Turnunterricht fast aller Schulstufen dominierende Ballspiel abzuschaffen". Sprich Völkerball. Unterstützt wurde Schuh vom Gänserndorfer Bezirksschulinspektor Manfred Wimmer, der Pädagoginnen und Pädagogen ebenfalls empfahl, "andere Ballspiele zu forcieren". Dafür sah und sieht Schuh, wie er auch im persönlichen Gespräch versichert, "gute Gründe in Fülle". Motiviert hätten ihn eigene Erfahrungen als Schüler, Sportlehrer und Volleyballtrainer.

Doch letztlich mussten Schuh und Wimmer feststellen, dass der Schritt, den sie setzen wollten, "ein unpopulärer Schritt" war. "Wie so oft bei den Reformbestrebungen in der Pädagogik siegten am Ende weitgehend die Beharrungskräfte", erklärt Schuh. "Das ist in meinem Buch des Scheiterns jetzt leider ein Kapitel", erklärt er auch. Und nicht zuletzt deshalb sei das Thema Völkerball auch heute noch im Sportunterricht "an so manchen Schulen bedauerlicherweise von Relevanz". Nämliches bestätigte die Regisseurin Marie Kreutzer, die zum 35-jährigen Jubiläum des STANDARD die Frage gestellt hatte: "Warum werden Kinder auch heute noch mit Völkerball gequält, und warum darf das so heißen?" Schon sie selbst habe Völkerball "als Kind gehasst" und sich "immer davor gefürchtet", und eine Generation später seien Kinder immer noch regelmäßig mit dem Abschießspiel im Turnsaal konfrontiert.

Es verwundert wenig, dass eine erwachsene Mehrheit gerne an Völkerball in der Schulzeit zurückdenkt, so wie es wenig verwundert, dass eine jugendliche Mehrheit noch heutzutage Gefallen daran findet. Doch Kreutzer und Schuh geht es um die Minderheit. Schuh meint, dass Völkerball der Gesellschaft quasi den Spiegel vorhalte, in der ja nicht selten das Recht des Stärkeren gelte. "Die meist begeisterte Zustimmung der guten Fänger und kraftvollen Werferinnen übertönt die stille Resignation der 'Opfer'."

Diskussionen und Elternabende

Als der Bezirksschulinspektor Schuh, der da schon zwanzig Jahre als Volleyballtrainier hinter sich hatte, 1995 die Schuldirektionen davon überzeugen wollte, Völkerball hintanzustellen, war die Aufregung in der Lehrerschaft, aber auch bei vielen Eltern groß. Schulen veranstalteten eigens Diskussionen und Elternabende. "Da haben sich, wie es halt so ist, oft die Lautstarken durchgesetzt." Es rauschte sogar im niederösterreichischen Blätterwald, in den "Niederösterreichischen Nachrichten" erschienen mehrere Artikel zu dem Thema. Schuh wurde wie folgt zitiert: "Kinder, die beim Völkerball schlechte Erfahrungen gemacht haben, sind für andere Ballsportarten verloren." Im aktuellen Gespräch mit dem STANDARD bleibt er dabei. "Wenn Kinder lernen, vor dem Ball wegzulaufen, dann ist das kontraproduktiv. In anderen Sportarten geht es darum, sich zum Ball hinzubewegen." Ihm seien damals sogar Fälle bekannt gewesen, in denen Völkerball mit kleinen Medizinbällen gespielt wurde. "Was glauben Sie, wie sich das manchen Kindern eingeprägt hat, die damit getroffen wurden!"

Das Argument, dass Kinder beim Völkerball etwa das Fangen eines Balls lernen, lässt Alois Schuh nicht gelten. Schließlich sei dies auch beim Handball oder Basketball eine zentrale Übung. Da würde Sonja Spendelhofer, Fachinspektorin für Bewegungserziehung und Sport im Wiener Stadtschulrat, zustimmen. Darüber hinaus meint sie, es sollte im Sportunterricht natürlich "nicht nur Völkerball" gespielt werden. Geschicklichkeitsspiele, etwa Jonglieren, könnten "gerade für die Schülerinnen und Schüler, die sonst nicht so im Vordergrund stehen", eine Chance auf Anerkennung liefern. Jedenfalls brauchte es "im Sport besonders gute Pädagoginnen und Pädagogen". Und nicht solche, wie sie der frühere Bezirksschulinspektor Alois Schuh auch kennengelernt hat, solche, die regelmäßig Völkerball spielen lassen, "weil es keiner großen Vorbereitung bedarf". (Fritz Neumann, 15.12.2023)