Kinder beim Völkerball bzw. Dodgeball bzw. Abschießen
Hoch das Bein und ausgewichen. Abschießen im Turnsaal, so sah das in den 1970ern aus. Und so sieht es, vielleicht etwas bunter, da und dort immer noch aus.Nicht alle Kinder haben Spaß daran.
(c)The Scout Association / Mary

Warum werden Kinder auch heute noch mit Völkerball gequält, und warum darf das noch so heißen?" Zum 35. Geburtstag hatten 70 Menschen dem STANDARD jeweils jene Frage genannt, die sie damals, im Oktober, gerade am meisten beschäftigte, und dies war die Frage der Regisseurin Marie Kreutzer. Sie fragt sich nicht allein, das "Abfetzen" im Turnsaal sorgt landauf, landab in regelmäßigen Abständen für Diskussionen. "Ich habe Völkerball schon als Kind gehasst", sagt Kreutzer. "Ich habe mich immer davor gefürchtet. Es ist ja nicht nur in der Schule, sondern auch zum Beispiel auf Kinderfesten gespielt worden."

Das Thema Völkerball bewegt Menschen seit jeher, und das nicht nur buchstäblich. Es bewegt Kinder, so sie im Sportunterricht damit konfrontiert werden, aber auch deren Eltern. 2019 sprachen sich kanadische Forscherinnen und Forscher für ein Verbot des dem Völkerball sehr ähnlichen Dodgeball an Schulen aus.

Da Kanada, hier Österreich

Im Rahmen einer Studie der University of British Columbia waren Schülerinnen und Schüler im Alter von zwölf bis 15 Jahren befragt worden. Nicht wenige berichteten von psychischen Schäden, die sie durch Dodgeball erlitten hätten. Joy Butler, Professorin in Vancouver, sah "legalisiertes Mobbing".

Nun ist Österreich von Kanada ein paar Tausend Kilometer, aber so weit dann auch wieder nicht entfernt. Der Regisseurin Kreutzer kommt jedenfalls vor, dass sich in vielen Jahren kaum etwas geändert hat. Jetzt ist es ihre Tochter, die in der Turnstunde regelmäßig Völkerball spielen muss. "Ich finde schon die Bezeichnung schwierig", sagt Marie Kreutzer, "und dazu die Tatsache, dass Aggression belohnt wird. Sich gegenseitig abzuschießen, das ist ganz etwas anderes, als zum Beispiel gemeinsam ein Tor erzielen zu wollen."

Filmregisseurin und Autorin Marie Kreutzer: "Ich finde schon die Bezeichnung schwierig. Und dass Aggression belohnt wird."
EPA

Die Vermutung liegt nahe, dass bei anderen Ballspielen – im Fußball, Handball, Basketball oder Volleyball – dem Teamgedanken eine größere Bedeutung zukommt. Hier wird gemeinsam gewonnen oder verloren, im Völkerball stehen vor allem Verlierer bald einmal eher einsam da. Kaum jemand hat sich so eingehend mit Völkerball beschäftigt wie in Deutschland die Sportwissenschafterin Anita Rudolf und der Psychologe Siegbert Warwitz. Ihnen zufolge geht es auf ein rituelles Kriegsübungsspiel zurück. Der ursprüngliche Spielgedanke soll eine Schlacht zwischen zwei Völkern symbolisieren, die sich unter ihren Königen gegenüberstehen. Der Ball wäre demnach eine Angriffswaffe, jeder Treffer markiere einen "Gefallenen", der auszuscheiden habe. Die Verteidiger können ausweichen oder Bälle auffangen und damit unschädlich machen, wodurch sie dann selbst zu Angreifern werden. Zu Ende ist das Spiel, wenn eines der beiden Völker, nun ja, vernichtet ist.

Jahn und Napoleon

Für Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), den deutschen Turnvater, hatte Völkerball "wehrertüchtigenden Charakter". Er sprach von einem Sport, der die deutsche Jugend darauf vorbereite, sich gegen Napoleon zu verteidigen. In der Schweiz, die sich ja konsequent aus Kriegerischem heraushält, kommt Völkerball zumindest namentlich etwas freundlicher daher, als "Völki", und in der DDR ist von "Zweifelderball" die Rede gewesen.

"Dodgeball", das meistens sechs gegen sechs und mit fünf Bällen gleichzeitig gespielt wird, ist vor allem in Nordamerika, Großbritannien und Asien verbreitet, erfreut sich aber auch in Kontinentaleuropa wachsender Beliebtheit. Seit 2010 finden jährlich Europameisterschaften statt, Österreich hält bei acht EM-Titeln (einer Männer, fünf Frauen, zwei Mixed). Die Austrian Dodgeball Association (ADBA), die seit 2012 als Turnierveranstalter agiert, führt gut 3000 Aktive.

Wer Dodgeball als Leistungssport betreibt, hat sich das ausgesucht. Schulkinder haben kaum eine andere Wahl. Das Bildungsministerium unter Martin Polaschek (ÖVP) ließ auf Anfrage des STANDARD wissen, es teile "die kritische Sichtweise" der kanadischen Studienautoren. Allerdings gebe es "viele Abwandlungsformen der ursprünglichen Spielregeln, in denen es tatsächlich um das genaue Zielen und gute Fangen geht – also wesentliche Fertigkeiten, die Schülerinnen und Schüler lernen sollen". Da würden auch "andere Konzepte von ,Bewegung und Sport‘ in den Vordergrund treten", es würde "nicht mehr darum gehen, Personen mit einem Ball zu treffen".

Generell müsse der Bewegungs- und Sportunterricht "vom Einsatz vielfältiger Methoden geprägt sein", damit sei "ein ,Verfestigen‘ auf eine Methode, zum Beispiel ein einziges Fang- und Wurfspiel, ausgeschlossen. Darüber hinaus verweist das Ministerium darauf, dass die Bezeichnung "Völkerball" offiziell gar nicht verwendet werde. "Der Name ,Völkerball‘ ist in keinen Gesetzen, Verordnungen, Erlässen oder Rundschreiben des BMBWF verankert und findet auch in den aktuellen Lehrplänen für Bewegung und Sport keine Verankerung."

Sonja Spendelhofer, Präsidentin des Leichtathletikverbands (ÖLV) und Fachinspektorin für Bewegungserziehung und Sport im Wiener Stadtschulrat, hielt in einem STANDARD-Interview 2021 fest, dass es "im Sport besonders gute Pädagoginnen und Pädagogen braucht, die Situationen einschätzen und die richtigen Maßnahmen treffen können".

Chance gegen Mobbing

Der Sportunterricht könne Entwicklungen verstärken, biete aber auch "die große Chance, Mobbingtendenzen entgegenzuwirken". Es dürfe nicht sein, dass Teams gewählt werden "und am Schluss immer der- oder dieselbe überbleibt, der oder die es am wenigsten gut kann. Das wäre völlig unpädagogisch, da muss man eingreifen und zum Beispiel durchzählen lassen oder die Teams nach Anfangsbuchstaben zusammenstellen."

Laut Spendelhofer sollte man im Sportunterricht natürlich "nicht nur Völkerball spielen". Es gebe auch Geschicklichkeitsspiele, etwa Jonglieren. "Da gibt’s dann vielleicht Anerkennung gerade für die Schülerinnen und Schüler, die sonst nicht so im Vordergrund stehen. Niederlagen im Sport sind per se keine Katastrophe. Problematisch wird es dann, wenn einer chancenlos ist, pausenlos verliert und dann noch darauf herumgeritten wird." (Fritz Neumann, David Krutzler, 14.12.2023)