Der Drang, die Zukunft kennen zu wollen, ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Während früher Orakel oder Wahrsagerei für Vorhersagen dienten, werden die Prognosen nun immer ausgefeilter. Der Blick auf bevorstehende Zeiten hat sich im Laufe der Jahre immer wieder stark gewandelt, weiß Elke Seefried. Sie beschäftigt sich als Historikerin mit der Zukunft und mit Zukunftsforschung. Was ausschlaggebend dafür ist, wie wir auf kommende Zeiten blicken, schildert sie im Interview. Ebenso erklärt sie, warum Vorhersagen nicht unbedingt sinnvoll sind – und zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden können, denn: "Menschen reagieren auf Prognosen, und damit verändert sich unter Umständen die Zukunft."

Virtual Reality; Brille
Neue Technologien seien ganz entscheidend, wenn es um unser Bild von der Zukunft gehe, sagt die Historikerin Elke Seefried.
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STANDARD: Egal ob Orakel oder Wahrsagerei: Den Drang, mehr über die Zukunft zu wissen, hat die Menschheit seit jeher. Woher kommt er?

Seefried: Menschen möchten seit jeher die Zukunft kennen und voraussehen. Zum einen geht es darum, planen zu können – egal ob für den Alltag, für den Beruf oder für die Politik. Der Drang danach ist zurückzuverfolgen bis in die Antike, als Herrscher das Orakel von Delphi befragten. Zum anderen denken die Menschen über Endlichkeit nach. Früher verband sich das stark mit religiösen Bezügen, mit dem Glauben an ein ewiges Leben und der Angst vor dem Jüngsten Gericht.

Aber die Aneignung von Zeit und Zukunft hat sich in der Geschichte stark gewandelt. Noch im Mittelalter schien die Zukunft auf den Menschen zuzukommen, sie galt gewissermaßen als vorbestimmt, als Schicksal. Das änderte sich im 18. Jahrhundert im Kontext der Aufklärung und der Französischen Revolution. In einem quasi linearen Zeitverständnis schien sich jetzt die Zukunft aus der Vergangenheit und der Gegenwart zu entwickeln. Damit wuchs bei den Menschen die Erkenntnis, dass sie die Zukunft gestalten können – und zwar nicht nur jeder für sich, sondern auch auf politischer Ebene. Die Zukunft galt nicht länger als Schicksal, sondern als offen und veränderbar.

STANDARD: Derzeit herrscht recht viel Pessimismus, was die Zukunft angeht. War das immer so?

Seefried: Jede Zeit hat eigene "Zukünfte". Es gibt auch nicht nur eine Vorstellung von Zukunft zu einer Zeit, im Sinn einer "Pluritemporalität" existierten und existieren verschiedene Zeitwahrnehmungen und Zukunftsvorstellungen nebeneinander, jeder Mensch sieht sie sehr individuell. Dennoch lassen sich gewisse Phasen und Muster ausmachen, in denen kollektive Zukunftsvorstellungen ganz bestimmte Themen fokussieren. In den 1960er-Jahren stand zum Beispiel in Westeuropa das Thema Technologie im Vordergrund, wenn es um die Zukunft ging, in den 1970ern Umwelt und in den frühen 1980er-Jahren die Ängste vor einem Atomkrieg. Heute erscheint Pessimismus – eine negative Aneignung von Zukunft – erneut dominierend. Das hat nicht zuletzt auch mit der Pandemie zu tun, die hinter uns liegt. Hinzu kommen die Klimakrise, der Ukrainekrieg und der Terroranschlag der Hamas in Israel. Auch medial vermittelt entsteht der Eindruck einer Häufung aktueller Krisen.

STANDARD: Womit hängt es zusammen, welche der Zukünfte im Denken der Menschen dominieren?

Seefried: Dafür gibt es unterschiedliche Faktoren. Zum einen ist es natürlich die ökonomische Entwicklung. Die Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre und die Vorstellung, dass die Zukunft planbar und geradezu frei gestaltbar sei, basierte in Westeuropa auf dem ökonomischen Boom und dem sogenannten Wirtschaftswunder seit den späten 1950er-Jahren, welches volle öffentliche Haushaltskassen zur Folge hatte. Die Regierungen gingen davon aus, dass sie frei entscheiden könnten, wie man das Geld mittel- und langfristig investiert, wie man neue Technologien entwickelt und nutzen möchte.

Außerdem reagieren Menschen auf technische Entwicklungen und Durchbrüche. In den 1960er-Jahren waren das beispielsweise die Raumfahrt, die Atomenergie oder die Computerisierung, und es war damals die Wissenschaft, etwa die neue Zukunftsforschung, die gegenüber Öffentlichkeit und Politik verkündete, dass neue Technologien wie die Informationstechnologie und die Computerisierung unsere Zukunft und unsere Arbeitswelten verändern würden. Die Medien spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle: Welche Themen greifen sie auf und popularisieren sie? Nicht zuletzt prägen Filme und Literatur – wie Science-Fiction – unsere Sichtweisen auf die Zukunft.

STANDARD: Während einigen die Zukunft Angst macht, scheint sie für andere sehr erstrebenswert. Menschen mit viel Geld und Einfluss, wie etwa der US-Milliardär Peter Thiel, wollen ihren Körper einfrieren lassen, um in der Zukunft weiterzuleben. Ist das neu?

Seefried: Diesen Wunsch, unendlich zu sein, mittels Technik auch in Zukunft weiterleben zu können, gab es in allen Epochen. In den 1960er-Jahren hat etwa die RAND Corporation, ein großer amerikanischer Thinktank, eine erste "Delphi"-Studie durchgeführt und Expertinnen und Experten gefragt, welche Möglichkeiten die Technik bis zum Jahr 2000 bieten würde – das Jahr 2000 avancierte damals zum Fluchtpunkt allen Nachdenkens über die Zukunft. In dieser Studie wurde auch die chemische Kontrolle des Alterns genannt, mittels neuer Technologien, durch Einfrieren, während heute Superreiche überlegen, inwiefern sie das Blut jüngerer Generationen nutzen können. Das Verlangen, länger zu leben, hängt eben auch mit einem großen Glauben an Wissenschaft und Technologie zusammen.

Viele Milliardäre sehen optimistisch in die Zukunft – und wollen mit Kryonik ihren natürlichen Tod überstehen.

STANDARD: Was den Technikoptimismus angeht: Im Hinblick auf die Klimakrise gibt es aktuell zwei Denkrichtungen. Die eine sieht die Lösung darin, dass wir eine andere Art des Lebens und des Wirtschaftens entwickeln müssen. Die andere setzt große Hoffnungen in technologische Lösungen.

Seefried: Die Technik steht ganz stark mit unseren Vorstellungen von Zukunft in Verbindung. Und da kann man eben diese beiden Denkrichtungen unterscheiden: Technologieoffenheit und Technologiekritik. Fassbar wurde und wird das vor allem in der Frage, welche Bedeutung neue Technologien für die Lösung drohender Umweltprobleme haben. Das ist tatsächlich eine Debatte, die man bis in die 1970er-Jahre zurückverfolgen kann. Damals kam eine berühmte Studie des Club of Rome heraus, sie hieß "Die Grenzen des Wachstums". Darin hieß es: Wenn die Bevölkerungsentwicklung und unser Ressourcenverbrauch weiter so exponentiell wachsen, werde das ganz unweigerlich zu einem Untergang der Erde bis zum Jahr 2100 führen. Deshalb müssten die Produktion und der Konsum von Gütern eingeschränkt und auf Wirtschaftswachstum in der Zukunft verzichtet werden. Das waren natürlich weitreichende und im Hinblick auf eine Einschränkung des weltweiten Wachstums utopische Forderungen.

Doch die Studie trug maßgeblich zur Entstehung der modernen Umweltbewegung in Westeuropa bei, die sich wachstumskritisch positionierte und sich zum Teil mit der Anti-AKW-Bewegung verband: Protagonisten wie Robert Jungk, ein bekannter deutsch-österreichischer Zukunftsforscher, waren überzeugt, dass eine andere, ökologische Lebens- und Wirtschaftsweise auch den Verzicht auf Großtechnologien wie Atomkraftwerke bedeutete. Hier verbanden sich Wachstums- und Technikkritik. Viele dieser Überlegungen prägen auch heute noch große Teile der Umweltbewegung. Hier geht man davon aus: Die Klimakrise kann nicht mit Technologien aufgehalten werden, sondern erfordert Verhaltensänderungen, auch jedes einzelnen. Die andere Strömung, die sich damals aus der Debatte über die "Grenzen des Wachstums" heraus entwickelte und sich seit den 1980er-Jahren mit Konzepten der ökologischen Modernisierung und Umweltinnovation verbindet, zielt darauf ab, Umweltschutz und Energiewende mittels moderner Technik zu schaffen. Sie ist optimistisch, was neue Technologien angeht, wie Geo-Engineering oder die CO2-Speicherung unter der Erde.

STANDARD: Können sie sich einig werden?

Seefried: Das ist schwierig, letztlich geht es um verschiedene Weltanschauungen und Verständnisse dessen, was Fortschritt ist. Gerade im Begriff der Nachhaltigkeit treffen sich indes beide Strömungen: Eine nachhaltige Entwicklung verspricht, in einer langfristigen Perspektive ökologische und ökonomische Ziele auszubalancieren. Freilich handelt es sich um einen sehr offenen, deutbaren Begriff, der inhaltliche Differenzen und Zielkonflikte auch verdeckt. Letztlich kann eine andere Lebensweise in einer Demokratie nicht politisch vorgegeben werden, und wir werden beides brauchen, um mit dem Klimawandel umzugehen: neue Technologien und eine kritische Reflexion über Lebensweisen im globalen Norden und im globalen Süden.

Klimaprotest; Wien; Fridays for Future
Die einen fordern eine ökologische Art zu leben und zu wirtschaften – die anderen setzen ihre Hoffnungen in technologische Lösungen. Diese beiden Denkrichtungen würden aktuell dominieren, wenn es um die Klimakrise gehe, sagt Elke Seefried.
APA/GEORG HOCHMUTH

STANDARD: Mit der Zeit wurden die Technologien, um in die Zukunft zu blicken, immer ausgefeilter. Heute dienen oft Algorithmen und künstliche Intelligenz zur Vorhersage. Hat sich dadurch die Art, die Zukunft zu antizipieren, verändert?

Seefried: Tatsächlich hat man schon in den 1950ern angefangen, die Zukunft zu berechnen. Das hing damals mit dem Aufstieg der Computer zusammen und der Idee, dass man große Datenmengen sammeln und anhand bestimmter Parameter auswerten kann, und computerisierte Simulationsmodelle könnten dann Aussagen über die Zukunft liefern. In den 1960er-Jahren herrschte regelrecht die Vorstellung in der Zukunftsforschung, einer neuen Wissenschaft von der Zukunft: Wenn man bestimmte Datenmengen hat, kann man bestimmte Entwicklungen voraussagen – und damit auch steuern. Eine zentrale Rolle dafür spielte die Kybernetik, die Wissenschaft von der Nachrichtenübermittlung, Kontrolle und Steuerung in Systemen, die in den 1960er-Jahren die Erwartung nährte, man könne die Zukunft zielorientiert steuern.

Doch die Zukunftsforschung kam in die Kritik, sie hat vieles nicht vorausgesehen, wie die Wirtschaftskrisen der 1970er-Jahre. Erkennbar wurde, dass zwar technische Trends bis zu einem gewissen Grad prognostizierbar sind, aber eben nicht ökonomische und soziale Entwicklungen wie Wirtschaftskrisen und sich wandelnde Wertvorstellungen, die in der Entstehung von sozialen Bewegungen münden. Die Zukunftsforschung hat deshalb in den 1970er-Jahren Lernprozesse durchlaufen. Sie erkannte: Auch die Menschen und ihre Bedürfnisse müssen mit einbezogen werden, wenn über die Zukunft und "Zukünfte" reflektiert, wenn geplant wird. Heute geht es den Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforschern eher darum, in Szenarien bestimmte Pfade in die Zukunft abzustecken, und weniger darum, konkrete Prognosen zu erstellen. Man wird sehen, welche Möglichkeiten die künstliche Intelligenz bringt, die Zukunft vorauszusagen, aber ich wäre eher skeptisch: Mit ihr können heute sicher sehr viel größere Datenmengen erfasst und ausgewertet werden, doch ermittelt man im Grunde nur Korrelationen, aber keine Ursachengeflechte, also Kausalitäten.

STANDARD: Die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny beschreibt ein Paradoxon: Wir erstellen Prognosen über die Zukunft, aber verhalten uns gleichzeitig unbewusst danach. Vorhersagen würden so zur Bestimmung, zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Sehen Sie dieses Problem?

Seefried: Was prognostiziert wird, hängt immer von dominanten gesellschaftlichen und politischen Zukunftsvorstellungen der Gegenwart ab, das ist auch mein Eindruck aus der Beschäftigung mit vergangenen Zukünften. Amerikanische und bundesdeutsche Wissenschafter und Politiker erklärten in den 1960er-Jahren, der Computer werde die moderne Wissensgesellschaft hervorbringen, die Forderungsförderung in diesem Bereich wuchs rasant, und diese Zukunftskommunikation trug dazu bei, die Computerisierung voranzutreiben. Hier lässt sich von einer selbsterfüllenden Prophezeiung sprechen.

Dieses Phänomen lässt sich zum Beispiel auch bei Wahlen beobachten: Berichten die Medien, dass eine Partei vorn liegt, neigen die Menschen eher dazu, sie zu wählen. Weil sie auf der siegreichen Seite sein wollen. So lässt sich auch Verhalten lenken. Aber natürlich gibt es Grenzen, etwa was ökonomisches Verhalten und Konsummuster angeht: Obwohl die Klimaforschung seit den 1970er-Jahren den anthropogen verursachten Klimawandel prognostizierte und die Folgen des Treibhauseffekts seit den 1980er-Jahren politisch diskutiert wurden, führte dies in Westeuropa nicht zu einem Einbruch der Automobilität oder des Tourismus.

STANDARD: Sie sagen, es mache wenig Sinn, vergangene Prognosen zu evaluieren und zu schauen, ob sie tatsächlich eingetreten sind. Warum nicht?

Seefried: Es ist natürlich eine sehr reizvolle Frage, was sich tatsächlich bewahrheitet hat – und was nicht. Dennoch: Jede Prognose, die ich öffentlich mache, die ich mitteile, löst Reaktionen aus. Das verändert schließlich auch das Handeln. So warfen Kritiker der bereits genannten Studie "Die Grenzen des Wachstums" von 1972 vor, deren Szenarien hätten sich nicht bewahrheitet. Doch die Warnungen haben etwas bewirkt, viele Umweltverbände und die grünen Parteien in Westeuropa entstanden auch als Reaktion auf diese Studie. Dadurch tritt der Effekt ein, dass die Prognose den Gang der Entwicklungen verändert. Anders gesagt: Menschen reagieren auf Prognosen, und damit verändert sich unter Umständen die Zukunft. Wir wissen anschließend nicht mehr, was ohne die Prognose eingetreten wäre.

"Menschen reagieren auf Prognosen, und damit verändert sich unter Umständen die Zukunft. Wir wissen anschließend nicht mehr, was ohne die Prognose eingetreten wäre." 
(Elke Seefried)

STANDARD: Also würden Sie keine Prognose für das Jahr 2024 wagen?

Seefried: Ich bin keine Zukunftsforscherin, sondern Historikerin, insofern sehe ich eher längere Entwicklungslinien. Die Rückkehr des Nationalismus und des Kriegs nach Europa hat uns relativ unvorbereitet getroffen, ist mein Eindruck. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein Krieg, der nationale Grenzen revidieren soll, und er geht einher mit der Idealisierung eines vergangenen Imperiums. Dies sind Entwicklungen, die Historikerinnen und Historiker und die europäische Politik lange vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verortet haben. Hinzu kommen nun der Terroranschlag der Hamas und der Krieg in Gaza. Die Frage, wie sich die EU strategisch und sicherheitspolitisch positioniert, wird auch das Jahr 2024 prägen. (Lisa Breit, 3.1.2024)