Mariah Carey
Mariah Carey zählt neben George Michael/Wham! zum fixen musikalischen Inventar in der Weihnachtszeit.
Brent N. Clarke/Invision/AP

Alle Jahre wieder beginnt Anfang November das bange Warten. Sind das schon die unheilvollen 80er-Synthiepop-Akkorde? Das ist doch seine Stimme? Genau 18 Sekunden dauert das generische Vorspiel, bis klar ist: Last Christmas und George Michael sind zurück. Die ewige Zeitschleife konnte auch in diesem Jahr nicht durchbrochen werden. Im Radio, Handel und auf Christkindlmärkten gibt es akustisch nun kein Entrinnen mehr.

Was die einen maßlos nervt, gehört für die anderen zu Weihnachten einfach dazu. Anders ist es sonst nicht zu erklären, dass der aus dem Jahr 1984 stammende Wham!-Klassiker seit einigen Jahren vor Weihnachten verlässlich zur Nummer eins der aktuellen Single-Charts aufsteigt. Konkurrenz droht dabei nur von Mariah Carey, die mit ihrem fast 30 Jahre alten Hit All I Want for Christmas Is You kurz vor dem Weihnachtsabend in der Regel die Nase vorn hat.

Wham! - Last Christmas
WhamVEVO

Die Popularität lässt sich auch an den Streaming-Zahlen ablesen. Allein auf Spotify wurde Last Christmas bisher 1,3 Milliarden Mal aufgerufen, der Song von Mariah Carey steht gar bei über 1,6 Milliarden. Selbst der meistgehörte Song von Pop-Superstar Taylor Swift, Blank Space, schafft nicht mehr. Auch kommerziell gesehen ist und bleibt Weihnachtsmusik also ein gutes Geschäft, wie auch zahlreiche Albumveröffentlichungen – zuletzt etwa von Musik-Ikone Cher – zeigen.

Nervige Weihnachtsmusik

Dass die weihnachtliche Beschallung nicht bei allen gut ankommt und in bestimmten Situationen sogar enormen Stress verursachen kann, verwundert Musikwissenschafter nicht. "Die Wahrnehmung von Musik ist sehr stark vom Kontext abhängig. Damit wir uns wohlfühlen, muss sie zur Situation und der eigenen Erwartungshaltung passen", erklärt Christoph Reuter von der Universität Wien. "Auf dem Weg zur Arbeit, wo wir bis Jahresende noch tausende Dinge erledigen müssen, sind wir aber gar nicht in der Lage, O du Fröhliche zu sein."

Mariah Carey - All I Want for Christmas Is You (Make My Wish Come True Edition)
MariahCareyVEVO

Das Phänomen, das wissenschaftlich als "Musical Fit" bekannt ist, wird auch in der Werbung, in Geschäften oder Restaurants oft gezielt eingesetzt. In einem vielbeachteten Experiment der University of Leicester konnte nachgewiesen werden, dass Menschen eher italienischen Wein kaufen, wenn im Hintergrund italienische Musik läuft. Ist französische Musik zu hören, greifen die Menschen im selben Geschäft eher zu französischem Wein.

In Restaurantsettings wird klassische Musik entgegen der Erwartung häufig als irritierend wahrgenommen. Läuft unauffälliger Mainstream-Pop, geben Menschen mehr Geld aus und bleiben länger sitzen. Auch beim Autofahren empfinden viele klassische Musik aufgrund der wechselnden Lautstärke als stressig.

Erwartung und Realität

Diese Effekte lassen Menschen auch oft an der Beschallung mit Weihnachtsmusik verzweifeln. Denn in der hektischen Vorweihnachtszeit verstärke sie die Diskrepanz zwischen besinnlich und in Feierstimmung sein zu müssen und den realen Vor- und Aufgaben, die just vor dem 24. Dezember dafür überhaupt keine Zeit lassen.

Auch das richtige Timing spielt eine Rolle, was das Unbehagen vieler beim Hören von Last Christmas bereits Mitte November erklärt. "Bei Weihnachtsmusik gibt es das Phänomen, dass sie mit musikalischen Mitteln arbeitet, die wir elf Monate im Jahr komplett ablehnen", sagt der Musikwissenschafter Jan Hemming von der Universität Kassel.

Auch in Schweden wird vor Weihnachten gern gesungen. Am Tag der Heiligen Lucia durchaus mit brennenden Kerzen am Haupt.
REUTERS/PHIL NOBLE

Die häufig an Kitsch grenzende üppige Instrumentierung, das Überlagern von Stimmen und andere weihnachtlich codierte Klangeffekte sieht Hemming als kulturhistorisches Vermächtnis, zumindest in unseren Breitengraden. "Auch wenn viele das christliche Fest nicht mehr bewusst wahrnehmen, ist der Wunsch nach dieser Erlösungsbotschaft weiterhin vorhanden. Und das schlägt sich offensichtlich darin nieder, was man in dieser speziellen Zeit ästhetisch präferiert, toleriert und letztlich auch erwartet", erklärt Hemming.

Dazu gehört wohl auch das traditionelle Musizieren am Weihnachtsabend, das an Kindheitserinnerungen anknüpft und damit Erwartungen bedient, wie man sich so einen Abend eben vorstellt.

Uralte Fähigkeit

Unbestritten ist, dass Musik uns emotional stark abholt. Das hängt damit zusammen, dass akustische Informationen in jenem Bereich des Gehirns verarbeitet werden, der, evolutionär gesehen, sehr alt und auch bei weniger hoch entwickelten Lebewesen ausgebildet ist. Denn um etwa in Gefahrensituationen blitzschnell reagieren zu können, behandelt das Gehirn Sinneseindrücke bevorzugt. "Wenn man ein Raubtier auf einen zusteuern sah oder ein verdächtiges Geräusch hörte, war für bedächtiges Abwägen meist keine Zeit. Man flüchtete oder machte sofort den Sprung zur Seite – wie heute, wenn ein Auto herbeirast", erklärt Hemming.

Warum Musik für Menschen eine so große Rolle spielt, könnte auch mit der pränatalen Phase zusammenhängen. Bereits im Mutterleib werden Menschen stark von akustischen Reizen geprägt. "Ungeborene können ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat hören", sagt Reuter. "Die Stimme der Mutter nehmen wir über die Knochenleitung sehr gut wahr, aber auch Stimmen und Geräusche können wir gedämpft hören." Vor allem tiefe Frequenzen würden wahrgenommen, von der Sprache bekomme man in erster Linie die Sprachmelodie mit.

Singendes Kind Weihnachtsbaum
Macht Singen glücklich? Vermutlich mehr als Blockflöte spielen ...
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Dazu komme, dass das Kind im Mutterlieb kontinuierlich periodischen Geräusche ausgesetzt sei – etwa Herzschlag, Atmung und den Schritten der Mutter. Vieles spricht also dafür, dass unsere Vorliebe für wiederkehrende rhythmische und melodische Elemente, die über alle Kulturen hinweg zu finden ist, vorgeburtlich geprägt ist.

Nach der Geburt, wenn Mutter und Kind physisch getrennt sind, spielen die akustischen Reize gerade in der ersten Phase eine wichtige Rolle. "Das Baby sieht die Mutter nicht, wenn sie etwa im Nebenraum ist. Kann es sie aber hören, versteht es mit der Zeit, dass sie nicht wirklich weg ist. Auch das trägt dazu bei, dass akustische Signale und letztlich auch Musik mit so vielen Emotionen verbunden sind", sagt Reuter.

Neurowissenschaftlich konnte in den vergangenen Jahren zudem gezeigt werden, dass beim Musizieren nicht nur eine bestimmte Region, sondern das Gehirn ganzheitlich stimuliert werde. Damit der Mensch Musik machen kann, benötigt sein Gehirn eine Vielzahl an Funktionen: etwa um Tonhöhen zu unterscheiden, sich Wörter zu merken oder motorisch den Kehlkopf in eine entsprechende Stellung bringen zu können. Auch aus Musik einen Puls zu extrahieren sei alles andere als trivial. "Diese Fähigkeit unterscheidet den Menschen tatsächlich von den meisten Lebewesen", sagt Hemming.

Blockflöte am Weihnachtsabend

Ob das Miteinander-Singen und -Musizieren wirklich nachhaltig glücklich oder sogar klüger macht, wie diverse Forschungsarbeiten suggerieren, bleibt umstritten. Bei praktisch allen Studien, die zu diesem Schluss kommen, sei das Musizieren nicht mit anderen Aktivitäten, etwa Fußball oder Theater spielen, oder sonstigen kognitiven Beschäftigungen verglichen worden, gibt Reuter zu bedenken.

Auch unter dem Weihnachtsbaum sei letztlich alles eine Frage der Perspektive. Reuter: "Die meisten Kinder, die zu Weihnachten Blockflöte spielen müssen, freuen sich mehr aufs Geschenkeauspacken." (Martin Stepanek, 16.12.2023)