Eine Kolossalstatue eines ptolemäischen Königs aus rotem Granit von über 5 m Höhe, die nach der Ausgrabung und ersten Säuberungen unter Wasser wieder zusammengesetzt wurde. Sie war in 5 Fragmente zerbrochen und wurde in der Nähe des Haupttempels in der versunkenen Stadt Thonis-Herakleion gefunden.
Eine Kolossalstatue eines ptolemäischen Königs aus rotem Granit von über 5 m Höhe, die nach der Ausgrabung und ersten Säuberungen unter Wasser wieder zusammengesetzt wurde. Sie war in 5 Fragmente zerbrochen und wurde in der Nähe des Haupttempels in der versunkenen Stadt Thonis-Herakleion gefunden.
Christoph Gerigk/Franck Goddio/Hilti Foundation

Es war nicht Atlantis, sondern eine reale untergegangene Stadt, auf die Franck Goddio 2000 vor der Küste Ägyptens stieß. Thonis-Herakleion – nicht zu verwechseln mit Heraklion auf der Insel Kreta – erinnert mit seinen Kanälen an Venedig und war in der Antike eine wichtige Hafenstadt. Ein Tempel mit kolossalen Statuen ehrte eine Form des Sonnengotts Amun: Amun-Gereb war für die Amtsweihe von Königen zuständig. Die Stadt liegt heute tief unter der Wasseroberfläche. Eine katastrophale Kombination aus instabilem Schlammboden an der Nilmündung und einem Erdbeben mit Flutwelle brachte offenbar im 2. Jahrhundert vor Christus den Untergang des berühmten Tempels. Der Rest der Stadt verfiel, versank bis zum 8. Jahrhundert vollends und geriet in Vergessenheit.

Seit dem 18. Jahrhundert hat man nach ihr gesucht und sie nicht gefunden – aus dem guten Grund, dass sie an Land nicht zu finden war, sondern unter Wasser lag. Antike Texte nahmen Bezug auf diese Stadt, die zu den wichtigsten Hafenstädten Ägyptens gehörte – während der späten Pharaonendynastien und zur griechisch-römischen Zeit.

Der Unterwasserarchäologe Goddio spürte sie mit seinem Team auf. Eine Granittafel bewies außerdem: Das griechische Herakleion und das ägyptische Thonis waren ein- und dieselbe Stadt. Damit wurde der Franzose mit der unkonventionellen Karriere weltberühmt. Neben den Fundorten im Mittelmeer bei Ägypten arbeitet er an submarinen Grabungsstätten in Kuba und auf den Philippinen, wo er etwa aus einem untergegangenen Segelschiff Tausende Exemplare von mehr als 500 Jahre altem chinesischem Porzellan aus der Ming-Dynastie barg. Finanziert wird er von der gemeinnützigen Hilti Foundation, seit 20 Jahren kooperiert er mit der Universität Oxford in Großbritannien.

Franck Goddio an Bord seines Forschungsschiffs
Vom Statistiker zum Expeditionsmanager für Unterwasserarchäologie: Franck Goddio.
Christoph Gerigk/Franck Goddio/Hilti Foundation

STANDARD: Sie arbeiteten lange als Statistiker und Finanzberater, etwa für die Vereinten Nationen. Warum wollten Sie das nicht mehr machen?

Goddio: Der Job war toll, ich reiste viel und traf Staatschefs und andere interessante Menschen. Aber als die Arbeit zur Routine wurde, wollte ich während eines Sabbatical-Jahres etwas ganz anderes machen. Ich liebe Archäologie und das Meer, also führte ich damals, Anfang der 1980er-Jahre, eine Art Marktstudie zu diesem Feld durch und lernte Beteiligte kennen. Dabei sah ich Potenzial für eine Forschungsgruppe, die mit Staaten und Institutionen zusammenarbeitet und permanent finanziell unterstützt wird, ohne von der Bewilligung einzelner Projekte abhängig zu sein. Zusammengestellt habe ich ein Team aus Fachleuten im jeweiligen Bereich – Taucher, Archäologen, Geophysiker, Fotografen. Meine ursprüngliche Stelle habe ich gekündigt und bin in den neuen Job eingetaucht.

STANDARD: Von etablierten Archäologen mussten Sie Kritik einstecken, weil Sie das Fach nicht studiert haben.

Goddio: Ich denke, das ist normal. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten im Finanzsektor, und ein Unterwasserarchäologe kommt und sagt, wie man dies und das angehen sollte. Klar sagt man: Kümmere dich um deinen Job und lass mich meinen machen. Aber sie haben damals nicht verstanden, dass ich die Besten des jeweiligen Fachs für meine Gruppe ausgewählt habe. Obwohl ich anfangs kein Experte war, lernte ich viel von ihnen. Ich bin das Produkt eines Teams. Unsere Resultate sprechen für sich, mittlerweile gibt es keine Kritik mehr, weil wir bewiesen haben, dass das eine effiziente Arbeitsweise ist. Gleichzeitig hilft das beste Team nichts, wenn man nicht dauerhaft unterstützt wird.

Ein Taucher in rotem Anzug mit Unterwassertaschenlampe schwimmt über massive Säulen.
Blöcke des Amun-Tempels, die im zweiten Jahrhundert v. Chr. in den Südkanal von Thonis-Herakleion gestürzt sind, nach der Ausgrabung. Sie befanden sich unter einer drei Meter dicken Schicht aus hartem Lehm.
Christoph Gerigk/Franck Goddio/Hilti Foundation

STANDARD: Sie haben sich einmal als Anti-Indiana-Jones bezeichnet. Wieso?

Goddio: Ich suche nicht nach Abenteuern oder Problemen. Ich versuche, sie durch gute Vorbereitung zu verhindern! Mir geht es um wissenschaftliche Forschung, darum, mehr über die Geschichte zu erfahren und dies der Öffentlichkeit zu vermitteln. Am meisten liebe ich es, wenn wir internationale Ausstellungen organisieren. Die Artefakte, die wir entdeckt und restauriert haben, werden ins beste Licht gerückt und wieder zum Leben erweckt, nachdem sie seit der Antike verschollen und teilweise zerstört waren. Es ist ein Privileg zu sehen, wie Menschen die zurückgekehrten Schätze bestaunen – von Kindern über Taucher bis hin zu Experten.

Vier verschiedene polierte Goldschätze, die geborgen wurden, und ein blaues Fundstück
Goldgegenstände und ein Djed-Pfeiler aus Lapislazuli, fünftes Jahrhundert v. Chr. Besondere Funde aus Thonis-Herakleion werden für Ausstellungen ins beste Licht gerückt.
Christoph Gerigk ©Franck Goddio/Hilti Foundation

STANDARD: Was fasziniert Sie an versunkenen Städten?

Goddio: Wir arbeiten an Orten, an denen Geschichte geschrieben und die Welt verändert wurde. Herakleion wurde von Herodot, dem "Vater der Geschichtsschreibung", als Tor in das ägyptische Reich erwähnt. Er schrieb über Paris und Helena, die dorthin gekommen sein sollen, als sie Griechenland gen Troja entflohen wie auch König Menelaos nach dem Ende des Trojanischen Kriegs. In einem Tempel, den wir fanden, soll ein Sklave des Menelaos Asyl gesucht haben. Es ist absolut magisch, diese Orte zu entdecken. Manchmal findet man Inschriften, die sich auf die antiken Texte beziehen, sie teilweise ergänzen. So ergibt sich ein Dialog zwischen unseren Funden und historischen Quellen.

STANDARD: Ihr Fokus liegt auf ägyptischen Städten.

Goddio: Ja, dort arbeiten wir an drei Fundstätten. Der Portus Magnus war der große Hafen des antiken Alexandria, also eine der wichtigsten Stätten am Mittelmeer. Es handelte sich um ein wirtschaftliches Zentrum der Macht, aber auch der Kultur und der Wissenschaften. Wir befinden uns da im Zentrum des königlichen Viertels, weshalb wir Objekte von exquisiter Qualität finden. Dann haben wir in der Bucht von Abukir Thonis-Herakleion – eine Stadt, die vor der Gründung von Alexandria diese Rolle innehatte. Zum dortigen Tempel des Amun-Gereb mussten in den späten Pharaonendynastien alle Pharaonen zur Amtsweihe reisen. Aber auch Griechen lebten dort und durften ihre Tempel bauen, auch phönizische Artefakte findet man. Und dann gibt es noch Kanopus, bekannt für seine Tempel des Totengotts Osiris und des neuen Gotts Serapis, auf dessen Spuren wir gestoßen sind.

STANDARD: Gibt es ein Fundstück, das für Sie besondere Bedeutung hat?

Goddio: Ja – der Beweis, dass wir auf Thonis-Herakleion gestoßen waren. Auf einer Stele aus schwarzem Granit wurden in Hieroglyphen Zollbestimmungen für griechische Waren festgehalten, die Pharao Nektanebo, der ab 380 vor Christus herrschte, ausgerufen hatte. Die zwei Meter hohe Steintafel bewies außerdem, dass es sich bei Thonis und Herakleion um dieselbe Stadt handelte – einmal mit ihrem ägyptischen Namen, einmal mit dem griechischen. Das lieferte die Antwort zu einer Kontroverse, denn der Geschichtsschreiber Strabon dachte 27 vor Christus bereits, dass dies zwei unterschiedliche Städte seien. Andere Autoren verwendeten immer nur den einen oder den anderen Namen.

Franck Goddio untersucht einen mit Hieroglyphen versehenen Granitstein unter Wasser.
Franck Goddio untersucht die zwei Meter hohe Granitstele von Thonis-Herakleion. Sie benennt den Ort, an dem Pharao Nektanebo I. sie aufstellen ließ, eindeutig mit Thonis-Herakleion.
Christoph Gerigk/Franck Goddio/Hilti Foundation

STANDARD: Wie wird entschieden, welche Teile vom Meeresgrund heraufgeholt und restauriert werden? Die Objekte könnten ja durch den höheren Sauerstoffanteil in der Luft Schaden nehmen.

Goddio: Das geschieht gemeinsam mit dem ägyptischen Altertumsministerium, mit dem wir zusammenarbeiten. Selbst bei Gegenständen aus Stein muss man vorsichtig sein und sie etwa behutsam entsalzen. Knochen oder Holz sind noch viel fragiler, und wir stoßen sogar auf Körbe. Kommt ein Objekt bei uns an Bord, darf es niemand berühren, geht es direkt an die Restauratoren. Sie leisten quasi erste Hilfe. Es liegt in ihrer Hand, wann es fotografiert oder angefasst werden darf. Längerfristig wird es später an Land restauriert.

Ein Taucher saugt Material mit einem blauen Schlauch ab, aus der Erde kommt die weiße, steinerne Hand einer Skulptur hervor
Eine Votivhand im Sediment von Thonis-Herakleion, datiert auf Ende des fünften, Anfang des vierten Jahrhunderts vor Christus. Sie stammt vermutlich aus Zypern und wurde als symbolisches Opfer an einer Kultstätte dargebracht.
Christoph Gerigk/Franck Goddio/Hilti Foundation

STANDARD: Bleibt manches absichtlich im Meer?

Goddio: Im einstigen Hafen von Alexandria lassen wir einige Statuen von Sphingen unter Wasser, denn es gibt Überlegungen, ein Unterwassermuseum einzurichten. Das kommt für Thonis-Herakleion nicht infrage, das liegt mehr als sechs Kilometer von der heutigen Küste entfernt. Außerdem haben wir dort die Problematik der Schiffswracks. In Thonis-Herakleion haben wir mit mehr als 100 Exemplaren die höchste Konzentration antiker Schiffe unter Wasser entdeckt – von Galeeren über Handelsschiffe bis hin zu Ritualbooten.

STANDARD: Man kann sie vermutlich nicht alle an Land bringen.

Goddio: Man könnte schon, aber die Unesco empfiehlt es nicht. Derzeit fehlen spezielle Labore, um die Holzschiffe zu restaurieren, und man muss bei einem solchen Unterfangen im Vorfeld zu 100 Prozent sicher sein, dass die notwendigen Bedingungen erfüllt sind.

Keramik liegt zwischen Muschelschalen auf dem Meeresgrund, im Vordergrund sieht man eine blau-weiße Keramik in Vogelgestalt und einen runden, orange-schwarz bemalten Schild.
Keramik und Bronzeobjekte zeugen vor der ägyptischen Küste von griechischem Handel.
Christoph Gerigk/Franck Goddio/Hilti Foundation

STANDARD: Wofür wurden die Ritualboote genau benutzt?

Goddio: In Thonis-Herakleion gab es eine sehr wichtige Zeremonie, die wir aus alten Texten kennen, um Ägypten für ein weiteres Jahr zu schützen, die Osiris-Mysterien. Dieses Ritual dauerte 29 Tage, dabei wurde etwa eine Statuette von Osiris in einem goldenen Sarg angefertigt. Auf den Kanälen, die wir gefunden haben, reiste Osiris auf einem heiligen Kahn von dieser Stadt nach Kanopus. Das Boot wurde im heiligen Kanal absichtlich versenkt, auf dass es Teil der Flotte des Osiris werde, und legten Ritualinstrumente als Geschenke bei. Ein solches Boot haben wir entdeckt, absolut fantastisch.

STANDARD: Wie nehmen Sie den Klimawandel im Mittelmeer wahr?

Goddio: Mit dieser Fundstätte haben wir eines der dramatischsten Beispiele von Naturkatastrophen und Klimawandel vor unseren Augen. Die Eintrittspforte nach Ägypten hatte einen 175 Meter langen Tempel, der nun draußen auf dem Meer liegt. Das zeigt, wie fragil die Küstenstädte auf der ganzen Welt sind. Der Anstieg des Meeresspiegels kann Weltregionen stark anfällig machen, was nun auch geschieht. Wenn es zu einem Erdbeben oder einer Flutwelle kommt, wird alles zerstört – eine Katastrophe.

Große Mengen blau-weißer Porzellanschalen am Meeresgrund.
Vor der Küste der Philippinen stieß Goddios Team auf ein untergegangenes Segelschiff, eine rund 500 Jahre alte Dschunke. Die Ladung, auf die die Forschenden bei der Ausgrabung stießen, bestand zu einem großen Teil aus chinesischem Porzellan.
Frédéric Osada/Franck Goddio/Hilti Foundation

STANDARD: Sind Sie schon einmal selbst in gefährliche Situationen gekommen?

Goddio: In Kuba und auf den Philippinen hatten wir manchmal mit Wirbelstürmen zu kämpfen. In Ägypten ist eher die schlechte Sicht unter Wasser ein Problem. Wenn man nur 20 bis 30 Zentimeter weit sieht, muss man beim Tauchen aufpassen. Durch neue Technologien wird das einfacher. Ein Spezialist scannt den Grund im Vorfeld und wir sehen am Computer noch vor dem Tauchen: In diesem Bereich dürfte Keramik liegen, dort müssen wir etwas ausgraben.

Wrack der Lena-Dschunke am Meeresboden
Das Wrack der Lena-Dschunke vor der philippinischen Küste liegt in 48 Metern Tiefe.
Frédéric Osada/Franck Goddio/Hilti Foundation

STANDARD: Was braucht es Ihrer Ansicht nach, um in der Unterwasserarchäologie erfolgreich zu sein?

Goddio: Man muss Geduld und Leidenschaft mitbringen. Immerhin verhindern die Umstände oft, dass man arbeiten kann, wo und wann man das geplant hat. Außerdem muss man ein effizientes Team zusammenstellen, das auch einen Monat zusammen auf einem Boot aushält. Bei unseren Missionen in Ägypten leben mehr als 30 Personen für etwa sechs Wochen dauerhaft an Bord.

STANDARD: Haben Sie noch Pläne für weitere Fundstätten?

Goddio: Wir haben schon an den jetzigen zu viel zu tun. Seit der Entdeckung von Thonis-Herakleion haben wir nicht einmal fünf Prozent der Stadt ausgegraben. Immer wieder kommen wir darauf, dass die Stadt größer ist als gedacht. Die vollständige Entdeckung wird noch Jahrhunderte dauern. (INTERVIEW: Julia Sica, 31.12.2023)