Genozid Völkermordkonvention Krieg gegen den Terror
Der Historiker A. Dirk Moses glaubt nicht an das Alleinstellungsmerkmal des Genozids als ultimativen Hassverbrechens. Er vermutet dahinter paranoides Denken.
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Die massenhafte Tötung und das Leiden von Zivilisten sind nicht Ausdruck einer Epoche, die wir bloß rückwirkend betrachten. Beides hat auch nach Beendigung der Nazi-Herrschaft kein Ende gefunden. Während des Vietnamkriegs, so der Historiker A. Dirk ­Moses, wurden allein von den US-Streitkräften achtmal mehr Bomben auf Südostasien abgeworfen als während des gesamten Zweiten Weltkriegs. Zwei bis drei Millionen Menschen fanden dabei den Tod.

Im Zuge zahlreicher Kampagnen wurde die Hinnahme ziviler Opfer bedauert – und jedes Mal zähneknirschend in Kauf genommen. Die Anzettelung des "globalen Kriegs gegen den Terror" hat, trotz Ein­satzes präziser Lenkwaffen, schwerste menschliche "Kollateralschäden" hervorgerufen. Der aktuelle Gaza-Feldzug legt dafür ebenso Zeugnis ab wie russisches Drohnenfeuer auf unschuldige Menschen. Als "bug­splat", also "Fliegenmatsch", bezeichnen Drohnenpiloten und andere Zyniker die von ihnen in Kauf genommenen Opfer.

Moses, ein höchst umstrittener Verfechter einer neuen Art von Erinnerungskultur, hakt hier ein. In seinem Essay Nach dem Genozid verlangt er nichts Geringeres als ein Überdenken gültigen Völkerrechts. Man schrieb 1948, als man in der Uno die "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" verabschiedete. Dem Akt zugrunde lag die Ächtung jeglicher Form von Genozid, der Vernichtung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten ethnischen, rassischen oder nationalen Gruppen.

Das kolossalste Hassverbrechen war selbstredend die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis. Von diesem Unmaß – der "Vernichtung um der Vernichtung willen" – wurde die Feststellung und Ächtung von Tatbeständen des Völkermordes abgeleitet. Moses wüsste dieses absolute Maß gerne ergänzt. Das Töten von Zivilisten sei eben unter keinen Umständen gerechtfertigt. Auch dann nicht, wenn die "Täter" – Staaten, Bürgerkriegsparteien – dabei das Ziel der Friedenssicherung ins Auge gefasst hätten. Wie zuletzt die USA. Oder eben Israel, wie man hinzufügen möchte.

Wahnhafte Idee?

Für A. Dirk Moses ist ein solches Denken gespensterhaft. Wer seine Panzer gegen vermeintliche Terroristen losschickt, huldige einer wahnhaften Idee, der einer "dauernden Sicherung". Die "liberale permanente Sicherung" rechtfertige ihre zahllosen Opfer mit höheren humani­tären Zielen. Militärschläge würden dadurch im Namen von Menschenrechten, Fortschritt und Demokratie geführt.

Der nämliche Missionseifer habe, sagt Moses, bereits die alten Kolo­nisatoren erfüllt. Im Namen der Menschheit wurden während der vergangenen 500 Jahre Völker unterjocht, ihre Gebiete besiedelt. Menschen wurden versklavt, ihre Ressourcen entwendet.

Das Projekt des "Erlösungsimperialismus" ist heuchlerisch, weil er sich gegenüber den Opfern, die er kostet, blind und taub stellt. Ein solches Vorgehen ist seit jeher die Praxis von Staaten und Großmächten gewesen, die sich rechtschaffen dünken. Es ist schuldhaft – und soll in einer Reihe mit den Verbrechen der Nationalsozialisten stehen.

Implizite Relativierung

Das bedenkliche Moment von A. Dirk Moses’ Analyse besteht in der zumindest impliziten Relativierung des Holocaust. Das fabrikmäßig organisierte Töten von Menschen sei singulär. Umgekehrt gehöre es eben zum Konzept der "dauernden Sicherung", mit den ins Auge gefassten Opfern auch gleich deren Kinder zu töten. Der mit Umsicht agierende Massenmörder möchte auf Nummer sicher gehen. Nichts fürchtet er mehr als die Rache der Nachfahren. Einige Nazi-Mörder wurden nach 1945 mit derlei Rechtfertigungen vor den Gerichtshöfen vorstellig.

"Alle Fälle der Zerstörung der Zivilbevölkerung folgen einer gemeinsamen Logik." Moses nennt es das Streben nach dauernder Sicherung. Er geißelt das pa­ranoide Kalkül, das einer permanenten Bedrohungseinschätzung zu eigen ist. Dagegen plädiert er für eine "verflochtene" Geschichtsschreibung, in der die Gräuel einander nicht überbieten, die Erinnerung an stattgehabtes Leid "multidirektional" ist.

Den Holocaust dem "Krieg gegen den Terror" an die Seite zu stellen ist der Kunst, Dinge zu unterscheiden, bestimmt nicht zuträglich. Es verhält sich, ganz im Ernst, wie mit dem Witz über den Paranoiden. Wer sagt, dass "sie", obzwar er krank ist, nicht dennoch hinter ihm her sind? Anders gefragt: Haben wir uns den Terror von Al Kaida, IS, Hamas et cetera wirklich alle nur eingebildet? (Ronald Pohl, 21.12.2023)