Doch noch auf die Spur der jüdischen Philosophin und politischen Ideenkritikerin Hannah Arendt gesetzt: Masha Gessen, nicht sparsam mit Kritik am heutigen Israel.
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Prinzipiell weiß sich Masha Gessen, jetzt doch noch Träger:in des Hannah-Arendt-Preises, in allerbester Gesellschaft. In einem Interview äußerte Gessen jüngst einen Verdacht. "In Deutschland", so Gessen (56), "würde Hannah Arendt den Hannah-Arendt-Preis wohl eher nicht erhalten."

Masha Gessen ist eine nichtbinäre russisch-amerikanische Persönlichkeit, die ideologiekritisch über Russland publiziert hat. Als Verleihinstanzen des Hannah-Arendt-Preises – er ehrt "öffentliches politisches Denken und Handeln" – zeichnen die Stadt Bremen sowie die Heinrich-Böll-Stiftung verantwortlich. Gessen sollte für Texte ausgezeichnet werden, die den Ukrainekrieg betrafen. Das Preisgeld (10.000 Euro) war ausgezahlt worden.

Doch die auslobenden Institutionen bekamen eiskalte Füße. Der Akt der feierlichen Überreichung wurde ausgesetzt. Gessen wurde mit ein paar Ersatzevents abgespeist. Eine Diskussion in Berlin folgte. Jetzt beiläufig geehrt, sah Gessen den "Versuch, mich zum Schweigen zu bringen", glücklich als gescheitert an. Was war passiert? Gessen hatte in einem ebenso ausführlichen wie abenteuerlich mäandernden Text Gaza mit den jüdischen Ghettos in Polen verglichen. Und nicht nur damit Anstoß erregt.

Lauter Glashüllen

In dem The New Yorker-Essay, erschienen nach dem 7. Oktober, kreidete Gessen den Deutschen deren Umgang mit dem Holocaust an. "Wie mit Glas umhüllt" kämen Gessen die einschlägigen Gedenkbauwerke in Berlin vor. Routine präge die nachbarliche Staatsräson. Die Selbstverpflichtung der Deutschen auf eine Politik, die sich das Wohlergehen Israels zum Ziel setzt, ist Gessen ein Dorn im Auge.

Kern des Vorwurfs: Obwohl nicht rechtsverbindlich, hat die International Holocaust Remembrance Alliance (I.H.R.A.) 2016 Richtlinien für die Früherkennung antisemitischer Umtriebe erarbeitet. Im Katalog inkriminiert wird auch der Vergleich israelischer Politik mit Untaten der Nazis. Länder wie Deutschland beherzigen die Richtlinien. An diesem heiklen Punkt setzt die Abwehr zahlreicher Jüdinnen und Juden an. Gessen will sich nicht abfinden mit wunderlichen Volten in Europas Politik, etwa mit der Zustimmung der AfD zu israelfreundlichen Resolutionen. Umgekehrt weist Gessen nachdrücklich auf Arendts Kritik aus der Frühzeit des zionistischen Staates hin. Die Philosophin fand Gelegenheit, das jüdische Massaker in Deir Jassin 1948 mit einem Nazi-Vergleich zu brandmarken (dieser betraf implizit Menachem Begin, später Israels Ministerpräsident).

Ein Hauptmotiv treibt dieser Tage viele Meinungsführer um. Das Wort "Antisemitismus" soll von der israelkritischen Agenda gestrichen werden, und zwar möglichst rückstandsfrei. Wer den Holocaust als Vergleich heranzieht, um zum Beispiel die Initiativen der BDS-Bewegung ("Boycott, Deinvestment, Sanctions") zu diskreditieren, betreibt laut Gessen Relativierung. Immerzu sind es Splitter im fremden Auge, die einen zur Weißglut reizen. Der Balken im eigenen schmerzt schon weniger. Wird der Hinweis auf die Einmaligkeit des Holocaust als Mundtotmacher missbraucht?

Unwürdiger Rückzieher

Der unwürdige Arendt-Preis-Rückzieher gegenüber Gessen kann nicht vom Dilemma ablenken. Der gebetsmühlenartige Vorwurf, die Israelis betrieben die Unterdrückungspolitik eines Apartheidstaates, lässt wenig Empathie erkennen: für jene Israelis, die in den barbarischen Attacken vom 7. Oktober die Handschrift des Judenhasses erkennen. Und die Saat eines Antisemitismus aufgehen sehen, der exterminatorische Züge trägt – indem Jüdinnen und Juden zu Hunderten gepeinigt und geschlachtet wurden.

Gessen-Verteidiger wie die Autorin Esther Dischereit sprechen von der Verwirklichung einer moralisch-politischen Einheitsdoktrin. Die Erinnerungspolitik in Deutschland bezeichnet Dischereit – mit Lust am Affront – als "Gedächtnistheater".

Das Wort hat der kanadische Soziologe Y. Michal Bodemann geprägt. Es sind jüdische Debattenbeiträger, die heute aus ihrer Abneigung gegen Israel kein Hehl machen. Die den Zivilisationsbruch des Holocaust lieber kleiner formatieren würden, ihn sachlich einsortiert wüssten. Und anstelle dessen über die deutschen Massenmorde an den Herero und Nama im heutigen Namibia (1904 bis 1908) reden wollen. Weil sie damit die Besatzungspolitik in Gaza meinen.

Dem in der Tat rigiden Meinungsklima in Deutschland steht der Schock zahlreicher Jüdinnen und Juden gegenüber. Yad-Vashem-Vorsitzender Dani Dayan (68) beklagt die unvermindert antisemitische Grundstimmung auf US-Eliteunis wie der Columbia.

Jüdische Studentinnen und Studenten würden von anderen abgesondert und vorgeführt. Die Exklusion von Juden ist wieder ein Thema. Dayan verglich die Stimmung in der Welt mit Zuständen an der berühmten Heidelberger Universität in den 1930er-Jahren. Hanna Arendt hatte dort, an der späteren Brutstätte diverser Rassentheorien, übrigens schon 1928 promoviert. (Ronald Pohl, 22.12.2023)