Lore Berger
"Ich sah oft mehr, als ich wollte": Lore Bergers Buch spricht – auch – von der Lebensgier einer jungen Frau vor dem Hintergrund einer perspektivlosen Zeit.
Th. Gut Verlag

Am 19. Juli 1943 reicht eine junge Frau das Typoskript ihres Romans Der barmherzige Hügel mit folgenden Worten bei der Jury des Gutenberg-Wettbewerbs in Zürich ein: "Ich bin eine noch nicht zweiundzwanzigjährige Baslerin, habe einige Semester phil. studiert, mich ab und zu in journalistischer Hinsicht (...) betätigt und arbeite jetzt als Sekretärin (...). Ich schrieb Selbsterlebtes. Ich schrieb neben dem Militärdienst, neben der Berufsarbeit. Ich litt noch einmal und sah Altes neu –. Ich sah oft mehr, als ich wollte."

Frauendienst

Lore Berger, die diese Zeilen schreibt, wird am 17. Dezember 1921 in Basel geboren. Der Vater ist Gymnasiallehrer, die Mutter Hausfrau. Bald schon beginnt sie eigene literarische Arbeiten wie Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben. Im Juli 1938 verliebt sie sich in einen jungen Mann, eine prägende Erfahrung, die sie später in Der barmherzige Hügel verarbeitet. Nach der unglücklich verlaufenen Liebe erkrankt sie schwer. Die Diagnose lautet hypophysäre Kachexie. Die Symptome sind schlechter Allgemeinzustand, Lust- und Appetitlosigkeit. Die Krankheit wird rein medizinisch behandelt, insbesondere mit Bluttransfusionen. Sie erholt sich, ab 1939 gilt sie als geheilt.

Im Juni 1941 lässt sich Lore Berger für den Frauenhilfsdienst rekrutieren. Während ihres Dienstes von Februar 1942 bis Mai 1943 schreibt sie auf die Rückseite von Gerichtspapieren den Entwurf ihres Romans. Ab Juni 1943 arbeitet sie als Sekretärin bei der Basler Vormundschaftsbehörde. Am 19. Juli reicht sie ihren Roman beim Büchergilde-Wettbewerb ein, am 14. August nimmt sie sich das Leben.

Hungerstreik

Der Roman Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas erscheint erstmals im Oktober 1944. Es ist die Geschichte von Esther, die während einer Bluttransfusion, die ihre Genesung hätte vollenden sollen, stirbt. In einer Rahmengeschichte, erzählt von Esthers Bruder, wird dieser Ausgang bereits zu Beginn vorweggenommen. Er schildert seine Schwester, wie sie seit 1938 an einer merkwürdigen Krankheit gelitten habe, mit Depressionen, Appetitlosigkeit und Mangel an Lebensfreude, sodass sie als 20-Jährige nur noch 38 Kilo wiegt. Von den Ärzten aufgegeben, werden ihr als letzte Rettung Bluttransfusionen verschrieben. Diese führen zu einer unerwarteten Besserung, doch bei der letzten Transfusion stirbt Esther – Herzstillstand. Beim Aufräumen ihres Zimmers kommt "ein primitiv gebundenes Schreibheft" zum Vorschein. Erst drei Jahre später liest der Bruder die Aufzeichnungen, in denen er erstmals mehr über seine Schwester erfährt.

Vordergründig handelt der Roman von einer unglücklich verlaufenden Liebesgeschichte: Esther trifft einen jungen Mann, Thomas, in den sie sich verliebt, mit dem sie einige glückliche Stunden verbringt, von dem sie jedoch mehr trennt als mit ihm verbindet, was sie selbst erkennt. Nach wenigen Wochen wendet sich Thomas von ihr ab und anderen Frauen zu. Dieses Ereignis wäre an sich abgeschlossen, wäre Esther nicht eine Gefangene und eine Sehnsüchtige, die leben will. So tritt sie in einen "Hungerstreik".

Doch viel mehr als von einer Liebesbeziehung handelt der Roman von Esthers Krankheit am Leben und von der unzerstörbaren Gier nach Leben vor dem Hintergrund einer Perspektivlosigkeit junger Menschen während des Krieges. Als die Jury des Preises der Büchergilde Gutenberg im November 1943 bekanntgibt, dass Der barmherzige Hügel den fünften Platz erreicht habe und zur Herausgabe empfohlen werde, ist Lore Berger seit drei Monaten tot. Bei Erscheinen im Herbst 1944 findet der Roman vor allem in Basel zahlreiche Leser und wohl insbesondere Leserinnen.

Lore Berger, "Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas. Ergänzt durch Fragmente aus dem Journal intime der Autorin". € 29,80 / 320 Seiten. Th. Gut Verlag, Zürich 2021
Th. Gut Verlag

Hunger nach Leben

Von der Kritik wird der Erstling kaum zur Kenntnis genommen. In der Weltwoche vom 1. Dezember 1944 empfiehlt Hermann Hesse das Buch als Geschenk "für eine Freundin", nachdem in derselben Wochenzeitung bereits im November eine ausführliche Rezension zu lesen war, in der eine starke dichterische Begabung erkannt wird.

1981 erscheint eine Neuauflage, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Charles Linsmayer, und stößt auf ein breites Echo. Besprechungen gibt es in Schweizer Zeitungen, aber auch Die Zeit geht auf einer halben Seite auf den Roman ein, hebt dessen "virtuose Komposition" hervor, rühmt die Aktualität, denn er "trifft – seiner Zeit vorgreifend – im Kern, woran gegenwärtig viele Jugendliche in der westlichen Welt kranken: den Überdruss an einer Übersättigung, die den Hunger nach Leben nicht zu stillen vermag".

Grausame Schilderung

Armin Mohler würdigt 1981 in Die Welt den Roman als einer, der die Autorin persönlich kannte. Für ihn ist das Buch eine meisterliche Leistung. An die Autorin kann er sich gut erinnern, an das "blonde Mädchen, Typ guter Kamerad", von der gesagt worden sei, sie habe jahrelang an Magersucht gelitten, wegen eines Rüpels aus Kreisen, mit denen man nicht verkehrte. Später dann, nach ihrem Tod, nach der Lektüre des Romans, war man befremdet, "nicht nur wegen der grausamen Schilderung der Runde in unserem, dem kleineren Turm. Am Ende des Buches sprang ein Mädchen vom Wasserturm herunter, auf den barmherzigen Hügel. Da hatte also eine von uns Ernst gemacht."

Auch Kurt Guggenheim, 1943 Sprecher der Gutenberg-Jury, beurteilt den Roman 1980 anders: "Heute würde ein erster Preis für den Barmherzigen Hügel durchaus drinliegen", aber damals habe man alles, was hoffnungslos gewesen sei, auszuschalten versucht. Dass Lore Berger eine Frau war, sieht er als weiteren Grund, weshalb sie nicht mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. "Sie hatte eben eine (...) frauliche Art, die Probleme zu sehen, eine Art, die mir damals einfach fremd vorkam, so ganz anders, als wir es sahen." (Liliane Studer, 22.12.2023)