Rentier
Trotz der Notwendigkeit, während des Sommers dauernd zu fressen, bleibt der Schlaf bei den Rentieren in dieser Zeit nicht auf der Strecke, denn Wiederkäuen wirkt überraschend erholsam, wie sich zeigte.
Foto: Leo Rescia

Der Energiebedarf von Rentieren ist enorm, ihr Futter allerdings ist nicht besonders nahrhaft. Eigentlich müssten die Tiere im Sommer permanent fressen, damit sie auf die benötigten Kalorien für einen ausreichenden Speckvorrat für den Winter kommen. Aber wann finden sie dann ihren wohlverdienten Schlaf? Offenbar kann die Nahrungsaufnahme in gewisser Weise den Schlaf ersetzen, wie eine aktuelle Studie zeigt: Bei Rentieren hat nämlich Wiederkäuen offenbar eine ähnlich erholsame Wirkung wie die Nachtruhe.

Auf diese Weise gelingt es den Tiere im Sommer tatsächlich, fast rund um die Uhr zu fressen. "Im Lebensraum der Rentiere herrschen extreme Bedingungen. Im arktischen Winter ist es gefroren und die Rentiere haben Schwierigkeiten, Futter zu finden", erklärte Melanie Furrer vom Universitäts-Kinderspital Zürich.

Mysteriöses Schlafverhalten

Um sich darauf vorzubereiten, verbringen die Tiere im Sommer fast die ganze Zeit mit der Futteraufnahme. Furrer und ihre Kolleginnen und Kollegen wollten für ihre Untersuchung herausfinden, was dies für den Schlaf der Rentiere bedeutet. Denn über das Schlafverhalten der Tiere war bisher wenig bekannt. "Vor uns hat noch nie jemand den Schlaf von Rentieren mit EEG gemessen", sagte Furrer. Mithilfe von EEG (Elektroenzephalografie) wird die elektrische Aktivität des Gehirns aufgezeichnet.

Für die nun im Fachjournal "Current Biology" veröffentlichte Studie reiste Furrer deshalb mit Elektroden und kleinen EEG-Geräten, die man sonst für die Schlafmessung von Menschen braucht, nach Norwegen. Die Elektroden wollten sie den Rentieren der Arctic University of Norway in Tromsø an den Kopf kleben, um so ihre Gehirnströme zu messen.

Praktische Zeitersparnis

"Wir wussten nicht, ob das klappen wird", sagte Furrer. Das tat es aber: "Als ich die erste Aufzeichnung anschaute, dachte ich zuerst, ich hätte aus Versehen eine Aufzeichnung eines Menschen erwischt", so Furrer. Diese Schlafmessungen führten die Forscherinnen und Forscher zu verschiedenen Jahreszeiten durch.

Es zeigte sich dabei, dass Rentiere im Winter, Sommer und Herbst ungefähr gleich viel schlafen. "Das war unerwartet", sagte Furrer. "Wir haben gedacht, dass sie im Winter, wo sie inaktiver sind und Energie sparen, auch mehr schlafen." Die Messungen der Gehirnströme während des Wiederkäuens erklärten, wie es die Rentiere schaffen, trotz erhöhter Aktivität im Sommer an genügend Schlaf zu kommen: Diese sahen nämlich so aus, als ob sich die Tiere im Tiefschlaf befinden würden. "Rentiere sparen also Zeit, indem sie ihren Schlaf und Verdauungsbedarf gleichzeitig decken", erklärte Furrer.

Da Rentiere aber offenbar nur einen Teil der Zeit während des Wiederkäuens schlafen, will das Team bei Folgestudien die Auswirkungen des Wiederkäuens im Schlaf mit dem Wiederkäuen im Wachzustand vergleichen. Außerdem wollen sich die Wissenschafter ansehen, wie es um das Schlafbedürfnis bei Jungtieren steht.

Rentiere
Im Sommer haben Rentiere keine Zeit zu verschwenden. Es gilt, sich genug Fett für den harten Winter anzufuttern.
Foto: AFP/OLIVIER MORIN

UV-Superkraft

Obwohl ihnen das im Sommer angefressene Fett weitgehend über den Winter hilft, können die Rentiere auch in der kalten Jahreszeit nicht völlig auf das Fressen verzichten. Wie es ihnen gelingt, Flechten (die in dieser Zeit ihre Hauptnahrung bilden) in der eisigen weißen Wüste aufzuspüren, hat eine andere Studie im Fachjournal "i-Perception" aufgedeckt.

Eine Forschungsgruppe um Nathaniel Dominy vom Dartmouth College (New Hampshire, USA) entdeckte, dass die im Winter blauen Augen der Rentiere auch UV-Licht wahrnehmen können. Bei diesen Wellenlängen des Lichts erscheinen die ansonsten weißen und damit schwer sichtbaren Flechten dunkel, wodurch sie sich in der Schneelandschaft deutlich abheben.

Im Unterschied zu anderen Säugetieren wechseln Rentiere saisonal ihre Augenfarbe. Im Sommer hat die lichtverstärkende Membran in ihrem Auge, das sogenannte Tapetum, eine goldene Färbung. Im Winter dagegen wird es blau, was ihnen dabei hilft, die Winterwelt um sich herum auch im ultravioletten Licht zu sehen – ein Trick, der den Tieren die ansonsten schwer erkennbaren Flechten gut sichtbar macht. "Es sind also Rudolphs blaue Augen, die es ihm ermöglichen, nach einer langen Weihnachtssaison sein Abendessen zu finden", erklärt Dominy. (tberg, APA, 22.12.2023)