Marlen Haushofer
Die als Marie Helene Frauendorfer geborene oberösterreichische Autorin Marlen Haushofer, fotografiert von ihrem Sohn Manfred Haushofer. Eine treibende und finanzierende Kraft hinter der Werkausgabe ist das Stifter-Institut.
Manfred Haushofer

Eigentlich hätte die nun herausgekommene, sechsbändige Marlen-Haushofer-Werkausgabe Die gesammelten Romane und Erzählungen schon vor drei Jahren erscheinen müssen. 1920 in Oberösterreich geboren und 1970 gestorben, wären damals gleich zwei Jahrestage zu begehen gewesen. Hierzulande gab es wohl Veranstaltungen, beim deutschen Verlag Claassen hingegen ist nichts passiert, bis die Germanistin Daniela Strigl eine Petition startete. "Man kann sagen, Claassen hat sie als Autorin dritter Ordnung behandelt, von Deutschland aus ließ sie sich leicht übersehen", sagt Strigl heute. Nun ist sie Mitherausgeberin der 2000 Seiten (€ 92,60).

STANDARD: Man kennt von Haushofer den Roman "Die Wand", auch dank einer Verfilmung von 2012, aber dann wird es meist schnell recht dünn.

Strigl: Die Wand ist so ein Kultbuch, in meiner engeren Umgebung gibt es auch nicht wenige männliche Fans. Ihr übriges Werk ist aber tatsächlich immer wieder vergessen worden. Man hat ja nicht einmal mehr alle Romane bekommen. Und die Taschenbücher, die es noch gab, hatten ganz unmögliche, eigentlich für die Autorin beleidigende Cover.

STANDARD: Beleidigende Cover?

Strigl: Sie gingen in Richtung weichgezeichnete schöne Mädchen. Man hat Haushofer als "Frauenliteratur" im schlechtesten Sinn präsentiert. Ich glaube, bei Claassen dachten sie sich, es geht bei ihr um Frauenschicksale, das verkauft sich so besser. Haushofers Sujet ist ja eine weibliche Alltagsumgebung, ein Bereich, in dem hausfrauliche Tätigkeiten dominieren. Ein Missverständnis davon war, dass auch ein Buch darüber nur langweilig und alltäglich, aber nicht radikal sein kann. Es gab keinen im Verlag, der ihre literaturhistorische Bedeutung richtig eingeschätzt hat.

STANDARD: Wenn man die 2000 Seiten liest, kann man sich das kaum vorstellen. Schriebe Haushofer heute, wäre sie sicher ein Hit in den sozialen Medien und im Literaturbetrieb: Zu starken Szenen, originellen Motiven, dem feministischen Impetus kommt ja ein unter Verlagen inzwischen vorhandenes Bewusstsein für die lange ungerechte Abqualifikation von Autorinnen.

Strigl: Genau! Dabei wäre sie aber gar nicht der Typ, der für einen Hype geeignet wäre. Denn sie wurde ja nicht einfach nur als schreibende Hausfrau rezipiert, mit schuld daran ist Haushofer schon auch selbst, denn sie hat sich genau so dargestellt: als Familien- und Pflichtmensch, Mutter, die am Küchentisch geschrieben hat. Wenn sie aus Steyr nach Wien gefahren ist, hat sie sich als Frau aus der Provinz geriert, bewusst den Dialekt kultiviert.

STANDARD: Warum hat sie das getan?

Strigl: Um zu vermitteln, dass von ihr keine Gefahr ausgeht – besonders nicht für die Männer. Die scharfe Beobachtungsgabe in ihrer Literatur hat sie im Auftreten heruntergespielt. Ich denke, dass es für sie einfacher war, nicht als Rivalin aufzutreten, sondern sich kleiner zu machen, unterschätzt zu werden. Sie war mit allen Wassern der feministischen Theorie und Literatur gewaschen, aber sie hat das kaschiert. Sie hat sich durch das Zurückgenommensein wohl mehr Möglichkeiten erhofft.

STANDARD: Möglichkeiten? Haushofer behandelt die fortwirkenden Traumata der NS-Zeit, patriarchale Ordnungen, das enge Gesellschaftskorsett für Frauen in den 50ern und 60ern. Sie schreibt über Frauen, die aus Beziehungen flüchten wollen, in stummen Ehen leben, hinterfragt das Modell Kleinfamilie. Frauen täuschen bei ihr Selbstmord vor und treiben Kinder ab, um sich von Männern zu befreien. Ihr Werk umfasst wohl sehr viele der Sorgen, Nöte der Frauen der Zeit. War Sie nicht sowieso eine feministische Ikone?

Strigl: Ihr kritisches Potenzial wurde erst mit der Frauenbewegung in den 1980ern wirklich erkannt.

STANDARD: Und bis dahin? Sie wurde doch sicher als Bedrohung für die Ordnung gesehen: Es gibt bei ihr eine Frau, die nicht mehr stopfen will!

Strigl: Es gibt zwei frühe Bücher, die verschollen sind, von denen man aber aus dem Briefwechsel mit ihrem Förderer Hans Weigel weiß. Er hat ihr davon abgeraten, sie zu publizieren. Der erste dieser Romane handelte von einem Mord von mehreren Frauen an einem widerwärtigen Mann. Weigel sagte, es sei ein tolles Buch, aber so unmoralisch, dass man es dem Publikum nicht zumuten könne. Das Bedrohliche für das Patriarchat steckt in den Büchern – man sieht das aber auch daran, dass die bedrohlichsten Dinge in Rezensionen damals nicht thematisiert wurden. Dass in der Wand der einzige Mann von der Protagonistin umgebracht wird, ist in den Berichten nie vorgekommen. Sie ist in ihrem Werk aber immer wieder auch kritisch gegenüber Frauen und deren freiwilliger Komplizenschaft, etwa in Wir töten Stella. Männer werden so in keiner Weise entlastet – aber zuzuschauen war aus ihrer Sicht ebenso schlimm.

STANDARD: Der Literaturbetrieb war damals noch männlicher dominiert als heute. Einerseits gab es Hans Weigel, der ihr zum Staatspreis verhalf, auf der anderen Seite standen Kritiker und Verleger, die Haushofer für ein Buch, das ihnen gelungen schien, einen Handkuss schickten. Wie anerkannt und ernst genommen wurde sie?

Strigl: Ich glaube, sie war in Österreich sehr wohl anerkannt, aber nicht wirklich populär. Sie hat ja selbst ungern aus ihren Büchern gelesen, und sie ist ungern gereist, gerade einmal von Steyr nach Wien ist sie gefahren. Sie war nie in Deutschland und auch nicht bei der Gruppe 47 wie Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger. Belächelt wurde sie allerdings auch nicht, den Leuten war schon klar, dass Die Wand eines der großen Bücher der Nachkriegszeit ist – das Buch hatte den Vorteil, dass hier zwar eine Frau die Protagonistin ist, es durch den fantastischen Kontext aber mehr existenzielle Aussagekraft bekommen hat. Man hat diese philosophische, zeitkritische Dimension in ihrem Werk sicher lange unterschätzt. Die Wand war Einfallstor für literarische Bedeutung, die auch anerkannt wurde.

Daniela Strigl
2000 hat Daniela Strigl eine Biografie über Haushofer geschrieben. Damals lebten noch viele der Schulfreundinnen und Nachbarn, die sie befragen konnte.
HERBERT NEUBAUER / APA / picture

STANDARD: Was einen an Haushofer erstaunt, ist, wie sehr sie literarisch zwar am gesellschaftlichen Käfig rüttelte, aber im echten Leben als Zahnarztgattin unglücklich in ihrer Ehe war und nichts dagegen tat. Wie geht das zusammen?

Strigl: Für Haushofer war das Dasein zwischen den Ansprüchen als funktionierendes bürgerliches Familienmitglied und Schriftstellerin eine lebenslange Spannung. Sie hatte leider die unangenehme Angewohnheit, aus Diskretion ihre Tagebücher zu vernichten, in ihren Briefen hat sie jedoch geschrieben, wenn ihre Söhne, die damals aber schon 16 und 18 waren, aus dem Gröbsten heraußen seien, werde sie sich nur mehr aufs Schreiben konzentrieren. So einen Brief könnte man sich von Ingeborg Bachmann nicht vorstellen!

STANDARD: Sie schrieb nur "zwischendurch" ...

Strigl: Es gibt einen Brief, in dem sie sich beschwert, sie versuche, am Abend zu schreiben oder möglichst in der Früh, solange noch Ruhe sei, aber das seien jeden Tag nur ein paar Stunden. Doch sie konnte unter schwersten Bedingungen arbeiten, den letzten Roman Die Mansarde schrieb sie, als sie schon schwer krank war, zur Bestrahlung musste. Sie war von einer eisernen Konsequenz, hätte sich vom Schreiben auf keinen Fall abhalten lassen.

STANDARD: Hatte sie Angst, wenn sie das familiäre und sie strapazierende Umfeld aufgäbe, könnte sie verlieren, worüber sie schreiben kann?

Strigl: Ich glaube nicht, dass es eine bewusste Überlegung war. Sie hat es sich so allerdings erspart, alles auf eine Karte setzen zu müssen – sie war ja auch zweimal mit demselben Mann verheiratet, das ist ein bewusster Willensakt. Natürlich waren andererseits ein Quantum Hilflosigkeit und Überforderung im Spiel. In diesen Fesseln zu verharren hat letztlich eine produktive Spannung ergeben, für die sie ein literarisches Ventil gefunden hat.

STANDARD: Kann man Hans Weigels Bedeutung für sie überschätzen?

Strigl: Ihre Rechtschreibung war ganz in Ordnung, sie hatte aber eine Beistrichschwäche. Er hat überhaupt immer das erste Typoskript lektoriert, dafür war sie ihm dankbar. Weigel hat ihr praktisch auch einen Roman abverlangt, das hat er auch bei Bachmann gemacht. Er sagte, wenn sie ernst genommen werden wollen, müssen sie einen Roman schreiben, und dann hat er sie sekkiert, bis sie es taten.

STANDARD: Was am Küchentisch schwer war ...

Strigl: In den 1950ern war die Visitenkarte von jungen Autoren eigentlich die Lyrik, Haushofer hat aber gesagt, Lyrik schreibe ich nicht. Ich glaube, sie merkte, dass sie einfach kein lyrisches Temperament ist. Kurzgeschichten aber waren auch für ihren Lebensrhythmus richtig. Und sie war da pragmatisch, hat Erzählungen auch für Zeitschriften geschrieben, um Geld zu verdienen. Es gibt darunter tolle, aber auch manche, denen man anmerkt, dass sie nur für eine Wochenendausgabe entstanden sind. Haushofer hat gewusst, was Brotarbeit war und in welche Texte sie alles reinsteckte. Ein Roman erfordert mehr Konzentration, das musste sie sich ertrotzen. Aber wenn es darauf ankam, hat sie sich auf die Füße gestellt. Als ihre ersten Bücher vom Verlag nicht gepflegt wurden, hat sie ihn gewechselt.

STANDARD: Ihr "sparsamer", "karger" Stil wird gelobt. War der bewusst eingesetzt, um die weiblich konnotierten Themen zu konterkarieren?

Strigl: Er hat ihr einfach entsprochen. Haushofer hat sich ganz allgemein über Avantgarde und Experiment geäußert und ihren eigenen Realismus als Form verteidigt und gesagt, es liege ihr nicht, das Experiment in der Form zu suchen. Sie war auch nicht die große Erfinderin, ihre Figuren haben alle etwas mit ihr zu tun. Sie sagte, mit der Wand hatte sie am wenigsten Mühe – es war ja nur ein genialer Einfall, den sie bloß durchexerzieren musste. Worauf es ihr ankommt, ist die Wahrhaftigkeit in der Sache. Ihre Radikalität liegt darin, dass sie die Dinge ohne Verbrämung und metaphysischen Trost darstellt. Trotz ihrer düsteren Diagnosen ist Haushofer dabei eine ausgesprochen amüsante und fesselnde Lektüre. Sie hat auch Ironie, Haushofers Ehemann etwa war Zahnarzt, die Ehemänner in ihren Büchern sind meist Rechtsanwälte – um die Zahnarztkaste nicht zu sehr zu beleidigen.

STANDARD: Wie aktuell ist Haushofer heute?

Strigl: Das Bewusstsein, was feministische Belange betrifft, ist ja noch heute nicht überall gleich. Ich habe auch das Gefühl, dass junge Leute heute genau registrieren, wenn jemand sehr präzise beschreibt, was es bedeutet, eine Rolle spielen zu müssen und die Dinge in ihrer Destruktivität zu erkennen, aber nichts ändern zu können. Haushofer war auch die Bedeutung des Lebens als Wert an sich sehr wichtig und dass sich eine technisierte Welt am Prinzip Leben und Mensch versündigt. Sie spricht die großen Dinge gelassen aus. (Michael Wurmitzer, 29.12.2023)