Tarotkarte
Heilsamer Fall? Die Tarotkarte "Der Turm" steht – auch – für plötzliche Veränderung und den Zusammenbruch des Bisherigen, das Neuem Platz macht.

Entropie, Unordnung, braucht Platz. Eigentlich hätte der Deutsche Rudolf Clausius, der 1865 den Begriff in die Thermodynamik einführte, Entropie anders nennen sollen. Das meint 100 Jahre später zumindest Thomas Pynchon in der Einleitung zu seiner Short-Story-Sammlung Slow Learner. Der geheimnisvolle US-Romancier plädierte für "Verwandlungsinhalt", was ihm trefflicher anmutete. Und zwar nicht nur fürs Geschehen in seiner Story, auch und erst recht für entropisches Weltgeschehen.

Unordnung braucht mehr Platz als Ordnung. So schrieb vor zehn Jahren Henry Kissinger ein Werk über Weltordnung. Das Fazit des "eldest statesman" und einstigen, umstrittenen "Realpolitikers" war verhalten: "Mit trügerischen Kalkülen angesichts wechselnder Machtkonstellationen stürzen sich Staaten ins Abenteuer. Andererseits führen moralische Imperative ohne das Streben nach Ausgewogenheit tendenziell zu Kreuzzügen oder zu einer Politik der Ohnmacht, die skrupellose Handlungen von Widersachern provoziert. Beide Extreme bergen das Risiko, den Erhalt der internationalen Ordnung zu gefährden."

Albumcover
Ulrike von Hirschhausen, Jörn Leonhard, "Empires. Eine globale Geschichte 1780– 1920". € 50,40 / 736 Seiten. C. H. Beck, München 2023
Verlag

Imperien und Untergänge

So leuchtet angesichts der bestürzenden Eskalation an akuter Welt-Unordnung in der letzten Dekade ein, dass Bücher zu diesem Thema umfangreicher sein müssen als der 480 Seiten zählende Band Kissingers. Was den stattlichen Umfang der Monografie Ulrike von Hirschhausens, Ordinaria für Europäische Geschichte in Rostock, und Jörn Leonhards erklärt, die nun als Duo in Empires. Eine globale Geschichte Reiche porträtieren, die zwischen 1780 und 1920 aufstiegen, aufblühten, in Krisen gerieten, kollabierten, implodierten. Ihre Globalgeschichte ist eines nicht, sie ist kein Handbuch. Vielmehr bedarf es der Verknüpfungslektüre und nicht wenig Ausdauer, detailreichen Abschweifungen in Regionen zwischen Triest und Schanghai, dem Kaukasus und dem Senegal zu folgen. Die fordernde Lektüre lohnt aber.

Es ist eine imposante, gelehrte, instruktive Erzählung immer wiederkehrender Abfolgen des Scheiterns imperialen Handelns ob lokaler Friktionen, Widerstände, Konflikte. Das stetig repetierte Muster ist dabei die Kollaboration einer mal mehr, mal weniger "wohlmeinenden Zentrale" mit lokalen Eliten, was Ungerechtigkeiten für das Gros der Bevölkerung ergab. Auch Zwangsmaßnahmen und dominante Rigidität, ob kulturell, sprachlich oder religiös, lösten Widerstand aus und bewirkten nicht größere Teilhabe, sondern Renitenz, Opposition, Kriege. Wie sich Machtansprüche entfalteten und wie sie scheiterten, das führt dieser gewichtige Band eindrücklich vor Augen.

Albumcover
Herfried Münkler, "Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte". € 31,50 / 528 Seiten. Rowohlt Berlin, Berlin 2023
Verlag

Schreibtischabstraktion

Wenn Werte und deren Transplantation nicht funktionierten in der Vergangenheit, tun es dann vielleicht Regelwerke? Diese Position vertritt Herfried Münkler in einer Kissingers "Realpolitik" verwandten Unterart, der kühl-akademischen Schreibtischabstraktion.

Lesenswert ist das Buch Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte durchaus. Wenn auch Münkler in der Regel zu wenig pointiert ist. Die Einsichten des emeritierten Politikwissenschafters der Berliner Humboldt-Universität sind nicht derart umstürzlerisch neu, wie er es gerne hätte.

Die Zukunftsordnung werde keine bipolare sein, erst recht keine monopolare, in der es nur noch einen weltdominanten Staat gebe, der den Takt an- und vorgebe. Vielmehr würde gerade eine multipolare Welt entstehen, mit – Münkler hat durchgezählt – fünf Zentren: den USA, China, der EU, Indien und Russland. Dabei erscheinen vor allem die systemischen Schwächen der zwei Letzteren nicht wirklich durchleuchtet; und ob die Europäische Union tatsächlich über sich hinauswachsen kann angesichts bürokratisch-struktueller Selbstverzwergung, ist disputabel.

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Ulrich Menzel, "Wendepunkte. Am Übergang zum autoritären Jahrhundert". € 20,60 / 352 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023
Suhrkamp

Mächte und Hegemonien

Ulrich Menzel, Jahrgang 1947 und so um vier Jahre älter, lehrte fast ein Vierteljahrhundert an der TU Braunschweig. Er schreibt schon lange über Mächte und Hegemonien, vor allem über die Theorie des Hegemons, wodurch die Staatenwelt niemals durchgehend eine anarchisch desorganisierte bleibe, den Übergang zu einer neuen Ordnung aber keineswegs zur Gänze Vereinbarungen, Verträgen, Abkommen und multinationalen Institutionen verdanke, stattdessen einer Lenkungs- und Ordnungsmacht, die Strukturen vorgebe und diese kontrolliere. Der Hegemon USA könne und wolle mittelfristig nicht mehr, der alternative Hegemon China sei – noch – nicht in der Lage, seine autoritären Vorstellungen anderen autoritätsaffinen Möchtegerndiktatoren und anderen Demokratiezerstörern direkt schmackhaft zu machen oder indirekt zu oktroyieren.

Zehn Aufsätze aus zehn Jahren hat Menzel in Wendepunkte. Am Übergang zum autoritären Jahrhundert zusammengestellt. Leitfragen sind: Wann entstehen Wendepunkte im globalen Spiel der Mächte ersten und zweiten Ranges, wie prägen einzelne Mächte bestimmte Zeiten, welche Bedeutung kommt bei bestimmten Rivalitäten bestimmten Innovationen zu? Zahlreiche historische Konstellationen skizziert er.

Rasch erweist sich der Untertitel als falsch. Denn der insinuierte automatisch unabwendbare Übergang in ein autoritäres Jahrhundert, und das gibt Menzel selbst zu, ist lediglich eine Eventualität, nicht mehr, eine Möglichkeit, eine illiberale Option. Was Menzel gegen Ende betont, ist: Ohne eine dezidierte und wertegeleitete Stützung und Unterstützung Europas durch die USA drohe Mittel- und Westeuropa eine antidemokratische Implosion, aus deren Folgen maßgeblich China Vorteile ziehen werde.

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Naoíse Mac Sweeney, "Der Westen. Die neue Geschichte einer alten Idee". Übersetzt von Norbert Juraschitz und Jens Hagestedt. € 35,– / 528 Seiten. Propyläen, Berlin 2023
Verlag

Westliche Vergangenheit

Angesichts populistischer Abrissattacken auf den "Westen", wobei sich linke und rechte politische Extremismen wie gegen Ende der 1920er-Jahre erstaunlich nahe kommen, ja deckungsgleich werden, mutet ein Buch über den "Westen" als gut terminiert an. NaoíseMac Sweeney, eine in London und Cambridge ausgebildete Archäologin, die seit 2020 als Professorin an der Universität Wien lehrt, gräbt in Der Westen. Die neue Geschichte einer alten Idee tief in der Geschichte von Plato bis zur Nato.

Das Basisprinzip des Bandes ist, anhand von vierzehn Biografien und durch rund 2500 Jahren hindurch den Wandel des Ideengemenges, der zivilisatorischer Thesen, Theoreme und kulturell-intellektueller Genealogien zu schildern. Dass es sich beim "Westen" und dessen proklamierten Werten des Humanismus und des Universalismus angeblich um konstruierte handle, diese Behauptung ist so neu nicht. Immer wieder greift Mac Sweeney auf den alles andere denn unumstrittenen palästinensisch-amerikanischen Intellektuellen und Literaturwissenschafter Edward Said zurück, was ihre Argumentation nicht profunder macht.

Die nicht wirklich überzeugende, weil in allzu vielen Punkten dem Zeitgeist gehorchende und Widerspruch auslösende Demontage "der Großen Erzählung von der Westlichen Zivilisation" endet mit Carrie Lam, die in Hongkong als Handlangerin der Volksrepublik China fungierte und entscheidend dazu beitrug, den vertraglich fixierten Sonderstatus der kosmopolitischen Metropole abzuräumen. Inklusive brutalen Erstickens der Zivilgesellschaft und Einkassierens grundlegender "westlicher" Freiheitsrechte.

Albumcover
Sophie Pornschlegel, "Am Ende der gewohnten Ordnung. Warum wir Macht neu denken müssen". € 20,60 / 272 Seiten. Droemer-Verlag, München 2023
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Strukturelle Probleme

Die deutsche Politikberaterin Sophie Pornschlegel, für Thinktanks in Brüssel und Berlin tätig, ist Jahrgang 1990, hat so seit dem 18. Geburtstag nur Krise erlebt. Kann eine jüngere Generation jene Lösungen präsentieren, die die älteren Münkler, Menzel et Cie. in ihren historischen Tiefenparallelbohrungen dezent meiden? Ja. Und Nein. Denn allzu vieles bei Pornschlegel bewegt sich auf dem Niveau eines gutgemeinten, austarierten Strategiepapiers.

Allzu oft kann man bei der auch publizistisch gefragten Analytikerin nickend zustimmen, wenn man Sätze wie diesen liest: "Die Konsequenzen der Krise werden immer gewichtiger, weil Notlösungen die strukturellen Probleme nicht angehen." Eine visionär-seriöse, wirklich tiefgreifende und fundamental ambitionierte Röntgen-Blaupause ist Am Ende der gewohnten Ordnung nur in Maßen, weil in Pornschlegels Synthese mit limitiert originellem Ausblick vieles aufgegriffen wird, das bekannt ist, das allzu bekannt ist. Der Band dürfte sich gut als Vorlage präsidialer Sonntagsreden eignen. (Alexander Kluy, 29.12.2023)