Lyrik Steine & Erden Dinggedicht
Auch er macht sich auf Rilkes Panther seinen Reim: der Lyriker und Übersetzer Jan Wagner, Georg-Büchner-Preisträger 2017.
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Selbst notorische Verächter von Rainer Maria Rilkes Sprachgewalt müssen einräumen: Bei ihm konnte alles Gegenstand lyrischer Betrachtung werden – eine Begabung, die ihn mit dem nachgeborenen Kollegen Jan Wagner aufs Innigste verbindet.

Rilke machte in seinen Neuen Gedichten (1907) von der Freiheit der Themenwahl verschwenderisch Gebrauch. Er verhalf Treppen, Marmor-Karren, Kurtisanen zum Auftritt in Versen, und er fand im "Panther" ein prototypisches Geschöpf, in das er förmlich hineinschlüpfte. Die "Schritte" des in Pariser Gefangenschaft gehaltenen Raubtiers seien – man beachte den Reim: – "wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte". Was aber tun, wenn besagte Mitte leer angetroffen wird?

Der heute in Berlin lebende Wagner, Georg-Büchner-Preisträger von 2017, hat auf Rilkes Schwerpunktsetzung mit Blick auf Raubkatzen eine verblüffende Antwort gefunden. Enthalten ist sie in dem famosen Band Steine & Erden. Auch Wagner schätzt das Tier ab. Er erkennt an der Katze (in konsequenter Kleinschreibung) Glieder, die "schwärzer als ein barrel / von rohöl" sind.

Es sind fast 120 Jahre vergangen seit Rilkes Besuch im "Jardin des Plantes". Wagner schaut ein zweites Mal hin. Sein Panther ist erstarrt "zu einem steifen kreis / aus schlaf, zu diesem reifen von pirelli". Es scheint, als ob auch geschmeidige Großkatzen heute als vulkanisierte Markenartikel auftauchen, echt nur mit Seriennummer.

Bruder Leichtsinn

Man hat in Wagner, dem Autor der Regentonnenvariationen (2015), eine Art Bruder Leichtsinn erkennen wollen: einen, dem das Dichten beneidenswert leicht von der Hand geht. In Steine & Erden scheint die Perspektive noch einmal verschoben. Wagners Virtuosität erweist sich in der Leichtigkeit der Themenfindung. Und so gilt ein zentrales Dinggedicht ausgerechnet den viel zu selten besungenen Karotten.

Wagner folgt einer Intuition Paul Valerys. Dieser sah es als töricht an, vom Wesen des "Lebens" großspurig daherzureden. Auf einer Wörterbuchsitzung, der Valery beiwohnte, wurde Leben als "Zustand der organisierten Wesen" beschrieben, "solange sie fühlen und sich bewegen". Woraufhin er gefragt haben soll: "Und was ist mit den Karotten?"

Wagners lyrische Ehrenrettung der Mohrrübe kann nicht nur gestandene Esel erfreuen. Karotten würden sich immerzu fort von der Sonne bewegen, dem Erdmittelpunkt entgegen. Was noch mehr ins Gewicht fällt, ist ihre Bescheidenheit. Sinnfällig ist ihre Form, "wie von einem corbusier / entworfen, ohne grobheit, niemals plump / und prahlerisch wie all die kürbisse (…)". Darum werde die Karotte sowohl vom Regenwurm als auch der Wühlmaus verehrt.

Themenfunde

Freunde zeitgenössischer Poesie stoßen in dem Band Steine & Erden auf jede Menge Gründe, Jan Wagner zu lesen. Die Anmut seiner jambischen Poesietanzschritte ist bewunderungswürdig. Seine Dinggedichte und Themenfunde haben meist die Verzerrung gewöhnlicher Gegenstände, das Verhältnis der Größen zueinander, zum Vorwurf.

Es kann ein Muschelmahl in Terzinen beschrieben (und bespöttelt) werden. Ein anderes Mal blickt der Dichter auf die anmutigen Hände der Jazzpianistin Aki Takase, "die sich niederlassen auf den tasten / wie zugvögel, die wissen wollen: / ist es afrika / oder noch nicht".

Lyrik geliehene zungen Sinngedicht
Ein "poeta doctus", der das Drama der Vergänglichkeit neu inszeniert: Franz Josef Czernin.
Czernin

Das Zusammenziehen und Kontrahieren der Gegenstände liegt auch Franz Josef Czernins Gedichtband geliehene zungen zugrunde. Bei diesem gelehrtesten aller heimischen Poeten wird anschaulich, wie die Dinge – und alle Wörter, die sie bezeichnen – einander wechselseitig hervorbringen.

Neu bei ihm scheint ein Zug ins Lebensdramatische. Ins Sichtbare drängen Intuitionen, die von der Doppelwertigkeit allen Empfindens handeln. Kein geistiges Dafürhalten, das von der "leibesspastik" absehen könnte, dem Drama menschlicher Hinfälligkeit.

Schluss mit lustig

Auch hier gilt: Die konsequente Kleinschreibung ermöglicht ständig wechselnde Bezugnahmen. Wörter und Begriffe scheinen bei Czernin in je unterschiedlicher Wortart auf. Sie beanspruchen Plätze, von denen aus Sinn hinaus ins Freie drängt. Einerseits ist Schluss mit lustig. Andererseits treibt die Maschine der Wort(er)findung ein Spiel, das potenziell unendlich ist. Die "alte leiter" führt eben nur vorübergehend zur "letzten letter".

Im alten Dinggedicht kam man oft vom Hölzchen aufs Stöckchen. In Franz Josef Czernins famosen, barock anmutenden Dichtungen findet man vom "froschafter" zum "frohbotschafter". Das mag ein ungewöhnlicher Weg sein, geebnet von klanglicher Einbildungskraft. Erbaulich ist er allemal. (Ronald Pohl, 2.1.2024)