Karoline Edtstadler zeigt sich besorgt über die EU-Skepsis in Österreich.
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Europa- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler gilt als eine der größten politischen Begabungen in der Volkspartei, und deshalb verdient auch ihr Europaweckruf Beachtung. Sie ist zu Recht "sehr besorgt" über Österreichs letzten Platz laut Eurobarometer bei der Zustimmung zur Europäischen Union: Nur 42 Prozent der Befragten finden die Mitgliedschaft in der EU positiv; 22 Prozent sehen sie sogar als etwas Schlechtes.

Wenn man die Export- und Investitionserfolge unseres Landes seit dem EU-Beitritt im Jahr 1995 in Erinnerung ruft, scheint die so starke EU-Skepsis die Aussage des bekannten israelischen Historikers Yuval Noah Harari zu bestätigen: "Man darf die menschliche Dummheit nie unterschätzen!"

Im Falle Österreichs muss man aber auch auf den politischen Dilettantismus in der eigenen Partei der besorgten Bundesministerin als einen wichtigen Faktor bei der EU-Verdrossenheit hinweisen. Bundeskanzler Karl Nehammer und sein Innenminister haben mit undifferenzierten und überzogenen Angriffen gegen die EU aus innenpolitischem Kalkül nur das befördert, was sie verhindern möchten, nämlich den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der von Herbert Kickl geführten FPÖ. Die verlogene Rhetorik über die Trennung zwischen dem "bösen" Kickl und den "braven" Freiheitlichen in den Bundesländern stärkt nur das FPÖ-Potenzial und entfremdet die bürgerliche Mitte.

Österreichs europäische Position wurde auch durch das in vielen Fotos und TV-Berichten verewigte Techtelmechtel Nehammers mit den Putin-Freunden Viktor Orbán und Aleksandar Vučić und das sinnlose Veto gegen den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens beschädigt. Auch die Auftritte des Ex-Kanzlers Sebastian Kurz in Ungarn lösten in Brüssel Verwunderung aus.

"Instrumentarium der Rechtspopulisten"

Vielleicht könnte Ministerin Edtstadler zuerst ihre frühere Kollegin Elisabeth Köstinger – die übrigens auch als Hauptdarstellerin in dem kroatischen Kurz-Jubelfilm auftrat – zum Rückzug aus ihrer neuen Funktion als Rätin jener Modul-Uni in Wien bewegen, die kürzlich indirekt vom Orbán-Regime, nämlich von dem mit fast zwei Milliarden Euro finanzierten ungarischen Thinktank MCC, übernommen wurde.

Othmar Karas, der angesehenste Europapolitiker der ÖVP, warf kürzlich der Parteispitze die Übernahme "des Instrumentariums der Rechtspopulisten" vor und rechnete in der Presse mit ihrer Europapolitik ab: "Mit dem Schengen-Veto, mit dem Umgang mit dem Migrationsthema, mit der Debatte zu den Finanzen der Europäischen Union wird es nicht gelingen, Vertrauen in die Politik und insbesondere in die europäische Politik bei der Bevölkerung zu schaffen – sondern das Gegenteil."

Diese Abrechnung wiegt schwer, weil Karas als Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments weit über Parteigrenzen hinaus geschätzt wird. Seine Stellungnahme und sein Verzicht auf eine neuerliche Kandidatur bei der Europawahl 2024 bestätigen die Abkehr der ÖVP-Spitze von jener Europapolitik, die Alois Mock symbolisiert hat. Die erste Aufgabe für die Europaministerin nach ihrem berechtigten Weckruf wäre also, in der eigenen Partei Vertrauen für eine konstruktive Europapolitik zu schaffen. (Paul Lendvai, 1.1.2024)