Neujahrskonzert
Christian Thielemann zeigte sich höflich und drehte sich zum Publikum, um dessen Klatschen beim Radetzkymarsch den Takt vorzugeben.
APA/DIETER NAGL

Die weltberühmten zwei Musikstündchen – vornehmlich im Dreivierteltakt – müssen heuer polizeilich von Problemen der Außenwelt abgeschirmt werden: Gesetzeshüter werden plötzlich zu Billeteuren. Erst nachdem die Uniformierten die wertvolle Eintrittskarte begutachtet haben, geht es auf das "Areal" Wiener Musikverein, in dessen Goldenem Saal Christian Thielemann – nach 2019 – zum zweiten Mal das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker dirigiert.

Lyrisch-dunkles Thema

Irgendwie scheint allerdings auch der Konzertbeginn von Problemen der Außenwelt abgeschirmt zu sein. Muss in diesen kriegsverseuchten Zeiten just mit einem Marsch begonnen werden? Zumindest wird der schmissig-fröhliche Erzherzog-Albrecht-Marsch von Karl Komzák in seiner Mittelmäßigkeit nicht martialisch zelebriert... Und: Bis auf den ersten Teil des Wiener Bürger-Walzers von Ziehrer bleibt es dann auch immerhin marschfrei an diesem ersten Vormittag des Jahres.

Gleich nach Komzák wird es zwar auch schon walzerselig. Bei Wiener Bonbons klingt es jedoch noch ein bisschen zu nett, aufgesetzt und bemüht locker. Erst beim inspirierten Walzer von Joseph Hellmesberger, bei dem delikat komponierten Für die ganze Welt, wirkt es stilgerecht geschmeidig: Samtig schwebt das lyrisch-dunkle Thema einher, bis die etwas grellen kollektiven Akzente an exponierten Stellen leider dezibelstark ins Bombastische kippen. Es dauert eben mitunter ein bisschen, bis sich alles rundet.

Fröhliche Virtuosität

Immerhin: Im ersten Teil schafft man es in die Sphären des Philharmonisch-Glanzvollen vor allem mit den kurzen sanguinischen Stücken. Tadellos pointiert und heiter etwa Johann Strauß’ Figaro-Polka mit einem edel-poetischen Moment des Innehaltens. Eduard Strauß' Ohne Bremse führt schließlich mit fröhlicher Virtuosität quirlig in die Pause, die mit der Strauß-Ouvertüre zur Operette Waldmeister beendet wird. Hier stimmt dann schon wieder alles. Es irritiert auch nicht wirklich, dass – in Vermutung eines Schlussakkords – nach einer Episode vorzeitig geklatscht wurde.

Immerhin ein unfreiwillig heiterer Moment in einem ansonsten fast gagfreien Konzert, das bei der Neuen Pizzicato-Polka einen Höhepunkt erreicht: So viel Dringlichkeit im diskreten Musizieren muss man erst einmal hinbekommen. Selbiges gelang als "Pizzicato-Nachschlag" auch bei Hellmesbergers Estudiantina-Polka.

Thielemann bemühte sich

Wenn etwas insgesamt fehlte, waren es diese erhofften besonderen, fast magischen Momente, bei denen die Zeit quasi stillzustehen scheint und der Klang dieses Orchesters besonders im Leisen sein Fluidum entfaltet, indem er Leichtigkeit und Melancholie vermählt.

Thielemann bemühte sich darum emphatisch – besonders bei Eduard Strauß’ Hochquelle-Polka (mit ihren melodischen Legatolinien) und bei Josef Strauß' Delirien-Walzer. Es wollte allerdings nicht wirklich gelingen. Momentweise wirkte die Intimität etwas herbeigequält und frei von jener eleganten Absichtslosigkeit, die es 2019 durchaus auch gab.

Stadium der Unschuld

In jedem Fall formvollendet das Heitere, das auch Anton Bruckner betraf, dessen 200. Geburtstag heuer gefeiert wird. Seine Quadrille WAB 121, die Wolfgang Dörner effektvoll für Orchester arrangiert hat, weist starke Verwandtschaft mit heiterer Frühromantik auf. Ein munteres Stück inspirierter Eklektik – eines Genies im Unschuldsstadium seiner Entwicklung – wurde elegant präsentiert.

Der Donauwalzer? Dem gab man schließlich doch noch endlich jenes gewisse Etwas, das zuvor selten geblieben war. Und während die Philharmoniker weitestgehend allein den Radetzkymarsch spielten, dirigierte Thielemann pädagogisch charmant, also zum Publikum gekehrt, das obligate Klatschen.

Gewisse Besorgtheit

2019 wünschte der nunmehr designierte Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden mit dem Orchester ohne spezielle Botschaft "Prosit Neujahr!". Heuer sprach er, nachdem er den ihm überreichten Blumenstrauß an eine Geigerin weitergegeben hatte, vor dem Gruß etwas länger und beklagte u. a. eine Welt voller Intoleranz. Seine Worte wiesen Spuren einer gewissen Besorgtheit auf.

Wenn die Welt also nächstes Jahr noch steht, wird Routinier Riccardo Muti das Neujahrskonzert 2025 dirigieren – dann schon zum siebenten Mal. Der Tonträger zum Thielemann-Konzert ist früher zu konsumieren. Ab 12. 1. (Ljubiša Tošić, 1.1.2024)