Am Dienstag war unter anderem Kiew Ziel schwerer russischer Beschüsse.
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Einen Tag nach der russischen Ankündigung einer Intensivierung der Angriffe auf die Ukraine ist Kiew am Dienstagmorgen Ziel eines schweren russischen Raketenangriffs geworden. Dabei habe Russland mehrere Hyperschallraketen des Typs Kinschal eingesetzt, teilte die ukrainische Luftwaffe mit.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte den Westen davor, vor Russland Schwäche zu zeigen. Denn sollte die Ukraine diesen Krieg gegen Russland verlieren, werde Kreml-Chef Wladimir Putin den Krieg näher an den Westen herantragen. "Putin erkennt Schwäche wie ein Tier, denn er ist ein Tier", sagte Selenskyj in einem am Neujahrstag veröffentlichten Interview des britischen Magazins "The Economist". Wenn er Blut wittere, werde Putin stark.

Frage: Was ist aus der ukrainischen Offensive des vergangenen Jahres geworden? Gab es irgendwelche Erfolge?

Antwort: Diese Offensive ist faktisch gescheitert, weil die Ukraine nicht die Mittel hatte, um eine derartige komplexe Operation tatsächlich durchführen zu können. Auch bei den Unterstützern der Ukraine ist als Folge darauf eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Immer öfter sind Überlegungen zu hören, ob es denn noch sinnvoll sei, die Ukraine weiter zu unterstützen. Das prominenteste Beispiel kommt aus den USA, wo das wohl vorerst letzte Hilfspaket für die Ukraine Ende 2023 bereitgestellt wurde.

In Europa hat die Ukraine zwar die grundsätzliche Zusage für Beitrittsverhandlungen. Aber eine Einigung auf neue Finanzhilfen steht immer noch aus.

Video: 250.000 Ukrainer nach Luftangriffen ohne Strom.
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Frage: Warum intensiviert Russland gerade jetzt die Angriffe auf die Ukraine?

Antwort: Die russische Seite sieht in dieser Verunsicherung des Westens eine Chance und versucht nun, wieder in die Offensive zu gehen. Auch die im März stattfindenden Präsidentschaftswahlen in Russland sind wohl ein Motiv dafür. Ohne Rücksicht auf Verluste sollen vor März noch Ergebnisse erzielt werden.

Das Wetter und die Jahreszeit spielen natürlich ebenfalls eine gewisse Rolle. Während im Herbst der Boden teilweise zu schlammig für militärische Operationen war, ist er nun wieder gefroren. Die etwa 1.200 Kilometer lange Frontlinie unter winterlichen Witterungsbedingungen teilweise im offenen Gelände zu verteidigen ist eine große Herausforderung für die ukrainischen Truppen.

Russland hofft darauf, die Ukraine nun massiv zu schwächen. "Russland wird weiter großangelegte Angriffe gegen die Ukraine durchführen, um die ukrainische Moral sowie die Fähigkeit der Ukraine, ihre Kriegsanstrengungen gegen Russland aufrechtzuerhalten, zu schwächen", heißt es auch in einem Bericht des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW).

Frage: Steht der Westen noch uneingeschränkt hinter der Ukraine?

Antwort: Kiew bekam und bekommt zwar vom Westen hochwertiges Material, aber eben nur in einem begrenzten Umfang. Die Ukraine musste wie gesagt in letzter Zeit außerdem feststellen, dass die Bereitschaft des Westens, sie zu unterstützen, zurückgeht. Im Falle der USA liegt das nicht zuletzt auch an der Innenpolitik. 2024 ist auch für die USA ein Wahljahr, die Unterstützung für die Ukraine ist nicht populär bei Wählerinnen und Wählern.

Als Reaktion darauf versucht Kiew, die eigene Rüstungsindustrie wieder hochzufahren und in der Zwischenzeit in die Defensive zu gehen. Außenminister Dmytro Kuleba hat die westlichen Partner am Dienstag auch aufgefordert, auf die jüngsten russischen Angriffe zu reagieren, indem sie "die Lieferung zusätzlicher Luftverteidigungssysteme, Kampfdrohnen aller Art und Langstreckenraketen mit einer Reichweite von über 300 Kilometern beschleunigen", teilt sein Ministerium mit. Kuleba drängt auch auf eine Entscheidung, ob eingefrorene russische Vermögenswerte für den Bedarf der Ukraine transferiert werden können.

Frage: Wie stark ist Russland militärisch noch?

Antwort: Russland ist militärisch und strategisch nach wie vor überlegen, auch wenn man keine genauen Zahlen hat. Das sieht man zum Beispiel bei der Artillerie oder auch im Zusammenspiel der einzelnen Teilstreitkräfte. Die Russen haben außerdem einen funktionierenden militärisch-industriellen Komplex, der weiterhin produziert. Zugleich betonten die ISW-Analysten, dass Russland nach fast zwei Jahren Angriffskrieg angesichts seiner Reserven und Produktionskapazitäten nicht in der Lage sein dürfte, regelmäßig in großem Umfang mit Raketen anzugreifen, aber beständiger mit Drohnen. Selenskyj zufolge hat Russland seit dem 31. Dezember etwa 170 iranische Shahed-Angriffsdrohnen und dutzende verschiedene Raketen auf die Ukraine abgefeuert.

Ein Vorteil für Russland ist auch, dass die militärische Ausrüstung der Ukraine eine Art Stückwerk ist. Ein Beispiel, das derzeit in den Medien ist, sind die aus Deutschland gelieferten modernen Kampfpanzer Leopard 2A6, von denen in der Ukraine nur noch sehr wenige im Einsatz sind. Die Instandsetzung der Panzer nach dem Fronteinsatz scheitert nämlich oft an fehlenden Ersatzteilen, wird aber auch dadurch in die Länge gezogen, dass die defekten Panzer erst nach Litauen in das dortige Wartungszentrum transportiert werden müssen, weil Mechaniker vor Ort die Reparatur nicht leisten können. (Manuela Honsig-Erlenburg, 2.1.2024)