Dass Zeichentrickfilme nicht mehr nur als etwas für Kinder gelten, daran hat Hayao Miyazaki maßgeblichen Anteil. Sein jüngster Film heißt
Dass Zeichentrickfilme nicht mehr nur als etwas für Kinder gelten, daran hat Hayao Miyazaki maßgeblichen Anteil. Sein jüngster Film heißt "Der Junge und der Reiher".
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Große Kunst rührt oft an die letzten Fragen, für die sonst die Religion oder die Philosophie zuständig sind. Bei Goethe geht es im Faust darum, "was die Welt im Innersten zusammenhält". An anderer Stelle in dem Stück, an dem er fast sein ganzes Leben lang immer wieder gearbeitet hat, erscheint dem Faust ein Hund, hinter dem sich sein Versucher Mephistopheles verbirgt: "des Pudels Kern".

Die beiden geflügelten Worte aus dem Klassiker der deutschen Literatur könnte man im Hinterkopf behalten, wenn man sich Der Junge und der Reiher von Hayao Miyazaki ansieht: einen Anime-Film aus Japan, von einem Meister, der in seiner Kultur durchaus eine vergleichbare Position zu der von Goethe im deutschsprachigen Raum einnimmt. Ein Klassiker, wenngleich in einem Medium, das lange Zeit nicht als große Kunst gesehen wurde.

Höhepunkte des Zeichentrickfilms

Zeichentrickfilme galten als etwas für Kinder. Das hat sich nicht zuletzt durch Hayao Miyazaki geändert: Prinzession Mononoke (1997) oder Chihiros Reise ins Zauberland (2001) gelten zu Recht als Höhepunkte der Kultur insgesamt. Sie fanden ein weltweites Publikum, und machten nebenbei auch mit Aspekten des japanischen Geisteslebens vertraut, die bei Yasujiro Ozu oder Akira Kurosawa nicht so stark ausgeprägt waren. Denn Hayao Miyazaki ist ein Fantast, er nimmt sich beim Erzählen alle Freiheiten, die der Zeichentrickfilm erlaubt.

Oft kommt er dabei auf Erfahrungen, die der von Faust mit des Pudels Kern entsprechen. Verwandlungen sind von zentraler Bedeutung auch in Der Junge und der Reiher, und Tierwesen mit menschlicher Anmutung sind allgegenwärtig. Mahito heißt der Bub, von dem im Titel die Rede ist. Er muss verkraften, dass seine Mutter 1943 bei einem Bombenangriff auf Tokio ums Leben kommt. Mit der apokalyptischen Feuersbrunst beginnt der Film eindrucksvoll – zugleich nimmt er hier eine autobiografische Spur des Regisseurs auf, der am Freitag seinen 83. Geburtstag begehen wird: Hayao Miyazaki wuchs im Krieg in Tokio auf, sein Vater war, wie auch der von Mahito im Film, Flugzeug-Ingenieur, wegen der Gefahr zog die Familie auf das Land.

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Magisch-ambivalent

Mahito findet sich in einer magischen Umgebung wieder, schon die fünf Haushälterinnen, die sich um ihn kümmern sollen, sind prototypische Ghibli-Figuren – Ghibli heißt das Studio, das Miyazaki gründete und in dem sein Lebenswerk fortgeführt werden soll. Sie sind groteske Vogelscheuchen, schwatzhaft und mit großem Appetit, aber auch sorgende Helferinnen – so ambivalent wirken nicht nur diese ersten neuen Bekanntschaften von Mahito in der Welt abseits der großen Stadt.

Er muss zudem mit einer neuen Mutter zurechtkommen. Sein Vater hat noch einmal geheiratet, Natsuko ist auch schon schwanger. Die vermisste Mutter ist aber noch präsent, etwa durch ein Buch, das Mahito findet: Genzaburo Yoshinos Wie lebst du? von 1937 ist ein philosophierendes Kinderbuch, das nach Erscheinen von Der Junge und der Reiher zumindest ins Englische übersetzt wurde. Dessen Titel zitiert der japanische Originaltitel des Films: Kimitachi wa Do ikiru ka.

In dem Sehnsuchtsraum, der sich für Mahito zwischen seinen beiden Müttern öffnet, entfaltet sich das Universum von Der Junge und der Reiher. Der Vogel wird zu seinem Geleit auf einer Heldenreise, die man auch ein bisschen wie einen Katalog von Miyazaki-Motiven nehmen kann. Der Film hat deutlich anthologischen Charakter, es geht darum, noch einmal wie in Ausschnitten alles zu durchmessen, was diese wundersamen Welten ausmacht.

Würdiger Schluss

Eigentlich ging die Filmwelt davon aus, dass Wie der Wind sich hebt (2013) der letzte Miyazaki-Film bleiben würde. Der Junge und der Reiher taucht nun auf wie eine spielerische Summe, die auch kunsthistorisch eine schöne Pointe hat. Denn Mahito gelangt tatsächlich an einen Punkt, an dem er sieht, was die Welt im Innersten zusammenhält – es ist auch ein Punkt am Rande der Abstraktion, an dem die eleganten Linien und Farbkompositionen sich in ein mechanisches Ballett verwandeln.

Zugleich ist es der Punkt, an dem ein jugendlicher Held mit einer Versuchung konfrontiert wird (Größenwahn als Flucht aus seinem Trauma). Und der Punkt, an dem er begreift, dass er besser den Geschöpfen folgen sollte, die ihm seine hochsensible Vorstellungskraft eingibt. Der Junge und der Reiher ist so auch ein Künstlermythos und damit ein würdiger Schlussstein in einem großen Werk. Wenn Miyazaki nicht noch einmal eine Überraschung folgen lässt. (Bert Rebhandl, 3.1.2024)