Protest Mitte November in Madrid gegen die neue spanische Regierung.
Protest Mitte November in Madrid gegen die neue spanische Regierung.
IMAGO/Europa Press/ABACA

Spanien wird dieser Tage von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht. Die Rechte protestiert gegen die Wiederwahl des Sozialisten Pedro Sánchez zum Ministerpräsidenten und gegen seine Bündnispolitik mit den Parteien aus der nach Unabhängigkeit strebenden Peripherie. Sie führen Fahnen aus Zeiten der Franco-Diktatur mit sich, rufen ewiggestrige Parolen und singen faschistische Hymnen. Es mobilisiert nicht nur die rechtsextreme Vox, drittstärkste Partei im spanischen Parlament, sondern auch der konservative Partido Popular (PP).

Spaniens Konservative haben keinerlei Berührungsängste, die Rechten betreffend. Sie gehen überall dort mit Vox zusammen, wo dies zur Mehrheit reicht. Fünf Regionen und mehr als 130 Gemeinden werden von einer Rechtskoalition regiert. Und überall ist eine der ersten Amtshandlungen die Streichung aller Programme, die der Vergangenheitsaufarbeitung dienen.

Namen kehren zurück

Es gibt keine Zuschüsse mehr für die Suche nach Massengräbern, in denen bis heute, über 80 Jahre nach dem Spanischen Bürgerkrieg, weit über 100.000 Opfer der Faschisten liegen. Und dort, wo die Namen derjenigen, die 1936 gegen die demokratische Republik putschten und Massaker gegen Demokraten, Gewerkschafter und Linke anrichteten, dank der staatlichen Politik von Straßen und Plätzen verschwunden waren, kehren diese auf Straßenschilder zurück.

Der ehemalige Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in Nürnberg und Spezialist in spanischer Kultur und Politik, Walther Bernecker, nimmt sich in seinem neuesten Werk "Geschichte und Erinnerungskultur" dem "Deutungskampf um Vergangenheit und Gegenwart" in Spanien an. Er versucht dem deutschsprachigen Publikum zu erklären, wie es möglich ist, dass bis heute in Spanien um die Deutung der Vergangenheit gerungen wird.

Keine Aufarbeitung der Diktatur

Bernecker spannt bei seiner geschichtlichen Einordnung der (fehlenden) Erinnerungskultur den Bogen vom Ende des Bürgerkrieges bis heute. Er zeigt auf, wie in 40 Jahren Diktatur nur derer gedacht wurde, die auf der "nationalen Seite" kämpften. Die Verteidiger der Republik galten bis zum Ende der Diktatur als Feinde Spaniens. Doch wer nach dem Tod von General Franco und dem Übergang zur Demokratie eine Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit erwartete, sah sich getäuscht.

"In den auf Francos Tod folgenden zwei Jahrzehnten legten die politischen Eliten (egal welcher Couleur) in der Frage der Vergangenheitsaufarbeitung eine auffällige Zurückhaltung an den Tag", schreibt Bernecker. Es war zum einen der Wunsch nach Aussöhnung und zum anderen die Angst vor einem erneuten Konflikt, die dies bewirkten. Diese gesellschaftliche Amnesie wurde gar als "Kultur des Übergangs zur Demokratie" verklärt. Ein "klarer demokratischer Bruch mit der Diktatur" blieb aus, konstatiert Bernecker.

Erst zum Jahrtausendwechsel – 25 Jahre nach Ende der Diktatur – sollte sich dies ändern. Es entstand eine soziale Bewegung zur Erinnerung an die Opfer der faschistischen Repression. Familien begannen die sterblichen Überreste der Ihrigen zu suchen, die ohne Gerichtsverfahren irgendwo erschossen und verscharrt worden waren. Die Politik folgte zögerlich, 2007 wurde ein erstes "Gesetz zum historischen Gedenken" erlassen, 2022 folgte das "Gesetz des demokratischen Gedenkens". Erstmals werden Familien bei ihrer Suche nach den Verschwundenen unterstützt.

Francos Leichnam umgebettet

Faschistische Namen verschwanden aus dem Straßenbild. Der Leichnam Francos wurde aus einem Mausoleum in den Bergen Madrids in ein Familiengrab umgebettet. Das Gleiche gilt für den Gründer der faschistischen Falange und einem der wichtigsten faschistischen Putschgeneräle an Francos Seite.

Jeder dieser Schritte war von Protesten der Rechten begleitet. "Das Spanienbild der Ultranationalisten – in Teilen auch das des Partido Popular – benötigt eine zusammenhängende und begeisternde Historie, um ihr nationales Narrativ mit Glanz präsentieren zu können", resümiert Bernecker. Der erbitterte Kampf gegen jedwede Aufarbeitung der jüngsten Geschichte ist ein Kampf um die ideologische Hegemonie, darum, was Spanien ist und sein soll.

"Vaterlandsverräter"

"Sánchez oder Spanien" ist dieser Tage immer wieder zu hören. Für die Rechte – Vox und PP – ist der Sozialist Pedro Sánchez, der mit Unterstützung der gesamten Linken und der Unabhängigkeitsparteien aus Katalonien, dem Baskenland und Galicien Vox und PP den Weg an die Macht versperrte, ein "Feind Spaniens" und ein "Vaterlandsverräter". Berneckers Büchlein ist der perfekte Einstieg für all diejenigen, die verstehen wollen, wie dies über 80 Jahre nach Ende der Diktatur mitten in Europa möglich ist. (Reiner Wandler aus Madrid, 4.1.2024)