Oscar Pistorius im Juni 2013 vor Gericht.
Oscar Pistorius im Juni 2013 vor Gericht.
REUTERS/SIPHIWE SIBEKO

Das letzte Zeitzeugnis einer sportlichen Betätigung von Oscar Pistorius, ja überhaupt die letzte öffentlich gewordene Aufnahme, ist ein wackliges Handyvideo. Es stammt aus dem Jahr 2015, aufgenommen offenbar von einem anderen Häftling. Zu sehen ist der ehemalige Paralympics- und Olympiastar, wie er im Innenhof eines Gefängnisses in Südafrikas Hauptstadt Pretoria mit dem ebenfalls verurteilten Mafiaboss Radovan Krejčíř auf seinen Prothesen einen Fußball kickt.

Video: Südafrikas gefallener Held Oscar Pistorius ist freigekommen.
AFP

Der Aufschrei war groß. Pistorius, einst einer der größten Helden der für Pathos anfälligen Nation, war wenige Monate zuvor wegen tödlicher Schüsse auf seine Freundin Reeva Steenkamp zunächst nur wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Der entspannte Kick passte ins Bild des Prominentenbonus, der Pistorius damals allenthalben unterstellt wurde. Prompt organisierten die Gefängnisbehörden eine Medientour, bei der auch eine kärgliche Zelle gezeigt wurde, in der Pistorius zeitweise untergebracht war. Und bald darauf wurde das Urteil auf Totschlag und das Strafmaß auf über 13 Jahre korrigiert.

Journalisten warteten vor dem Gefängnis auf Oscar Pistorius.
Journalisten warteten vor dem Gefängnis auf Oscar Pistorius.
AP/Tsavngirayi Mukwazhi

Ins kollektive Gedächtnis eingebrannt

Nun ist Pistorius (37) Freitagfrüh vorzeitig auf eine fünf Jahre dauernde Bewährung aus der Haft entlassen worden. Das gab die südafrikanische Strafverfolgungsbehörde am Freitag per Mitteilung bekannt. Pistorius sei nun "zu Hause", hieß es. Fast elf Jahre sind vergangen seit dem Verbrechen, das sich so sehr ins kollektive Gedächtnis der Nation eingebrannt hat wie sonst wohl nur die politisch motivierten Morde an Steve Biko (1977) und Chris Hani (1993), Idole des Befreiungskampfes.

Pistorius hatte in einem live im Fernsehen übertragenen Prozess ausgesagt, er habe Steenkamp versehentlich für einen Einbrecher gehalten und deshalb auf die geschlossene Toilettentür geschossen, hinter der sich seine Partnerin befunden hatte.

Verzweifelt haben die südafrikanischen Behörden versucht, eine Wiederholung des damaligen medialen Spektakels zu verhindern, das die über drei Jahre anhaltende Justizschlacht begleitet hatte. Pistorius' Entlassung sollte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. "Er wird wie andere auf Bewährung freigelassen und nach Hause gebracht werden, und wir geben dazu keine Details bekannt", teilte ein Sprecher der Gefängnisbehörden vorab auf Anfrage mit.

Alkoholverbot für Pistorius

Als Teil der Auflagen darf der gefallene Star das Anwesen seines Onkels, auf dem er voraussichtlich leben wird, nur zu bestimmten Zeiten verlassen. Auch der Konsum von Alkohol ist ihm untersagt, die Teilnahme an einem Programm zur Vermeidung geschlechtsspezifischer Gewalt sowie an einer Therapie zur Aggressionsbewältigung ist Pflicht. Die südafrikanischen Boulevardmedien, davon ist auszugehen, werden nichts unversucht lassen, das alles detailliert zu dokumentieren.

Schon in den vergangenen Tagen berichteten die örtlichen Zeitungen ausführlich über die bevorstehende Freilassung. Der Prozess war schließlich weit mehr als eine reißerische Geschichte über das persönliche Drama des ersten an den Unterschenkeln amputierten Leichtathleten, der sich für die Olympischen Spiele 2012 in London qualifizierte. Damals wurde Pistorius so lukrativ wie kaum ein anderer in Südafrika vermarktet.

Allgegenwärtige Gefahr

Die detaillierte Aufarbeitung des Verbrechens und die vom Schmerz zerfurchten Gesichter von Steenkamps Angehörigen erschreckten selbst die Südafrikanerinnen und Südafrikaner, die Realitäten wie zuletzt 27.000 Morde jährlich sonst ein Stück weit verdrängen. Und die sich von dieser allgegenwärtigen Gefahr mit privaten Sicherheitsdiensten, Alarmanlagen oder manchmal auch – wie Pistorius – eigenen Waffen irgendwie abzuschirmen versuchen. Zumindest die, die es sich leisten können.

Der Fall warf ein Schlaglicht auf die enormen Einkommensunterschiede, das fast beispiellose Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und die Unzulänglichkeiten der Justiz, die sich immer wieder den Vorwurf anhören muss, dass sie sich von den Anwälten gutbetuchter Angeklagter aushebeln lässt. Und auch Pistorius' weiße Hautfarbe spielte eine Rolle, obwohl das bisweilen komplexe Miteinander der ethnischen Gruppen in dem Fall eigentlich keine zentrale Rolle spielte.

Höhere Gerechtigkeit?

Zeitungen wie "The Guardian" stellten dennoch die Frage, wie der Fall wohl gehandhabt worden wäre, wenn der Angeklagte schwarz gewesen wäre. "Die einfache Auffassung war, dass weißer Reichtum gleichbedeutend mit dem Zugang zu höherer Gerechtigkeit ist", schrieb das Blatt während des Prozesses.

Fast in Vergessenheit geriet, dass der Nation eines seiner populärsten Sportmärchen abhandengekommen war. Das mag angesichts der dramatischen Umstände banal klingen, doch der Sport war in Südafrika schon immer mehr als eine Nebensache. Während der Apartheid traf der Ausschluss der südafrikanischen Nationalteams von internationalen Sportturnieren so manchen weißen Buren härter als die Wirtschaftssanktionen.

Und der Widerstand gegen das weiße Minderheitsregime formierte sich wiederum am Rande von Fußballspielen in den Townships. Neben den Kirchen gehörten die Stadien zu den wenigen genehmigten Orten für Massenversammlungen.

Mit dem Sport zusammenwachsen

Mit der Einführung der Demokratie versuchte Südafrika dann, über den Sport zusammenzuwachsen. Als das Land 1995 die WM im Rugby, dem populärsten Sport der weißen Minderheit, ausrichtete und auch noch gewann, überreichte Mandela dem burischen Rugbykapitän Francois Pienaar die Trophäe. Die Nation feierte vereint. Südafrika wurde Gastgeber des Afrika-Cups im Fußball und der WM im Kricket – und schließlich der Fußball-WM 2010.

Doch in den Jahren danach gewann das Land in seinen identitätsstiftenden Sportarten kaum noch etwas und versank im Korruptionssumpf des damaligen Präsidenten Jacob Zuma. Auch Stromnetz und Wirtschaftswachstum kollabierten. Die Geschichte von einem wie Pistorius, der als Sportler gegen alle Widerstände und Wahrscheinlichkeit triumphierte, war eine dringend nötige Erinnerung an die schon immer utopisch anmutenden Ideale der "Regenbogennation". Sie hatte wie er einst alle Widerstände überwunden.

Interviewverbot

Im vergangenen Jahrzehnt stand Pistorius als Totschläger dann plötzlich für die düsteren Seiten Südafrikas. Die Behörden wollen verhindern, dass jene über die Berichterstattung in den kommenden Tagen wieder im großen Stil ausgeleuchtet werden. Seit November, als die Aussetzung von Pistorius' Reststrafe zur Bewährung bekannt wurde, dürften lukrative Interviewanfragen bei seiner Familie eingegangen sein – dem Vernehmen nach zeigten sich besonders britische Fernsehsender in dieser Angelegenheit emsig.

Doch diese Angebote darf Pistorius zumindest bis zum Ende seiner Bewährungsstrafe Ende 2029 nicht annehmen. Seine Auflagen schließen Interviews kategorisch aus. (Christian Putsch aus Kapstadt, 5.1.2024)