Die gemütliche Pose täuscht. Die Überlebenden des Anden-Flugzeugabsturzes 1972 verbrachten Monate im Gletschereis und mussten sich von ihren toten Freunden ernähren, um zu überleben.
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Ein Promo-Bild von Geraldine Chaplin mit Pelzhaube aus dem Filmepos Doktor Schiwago hätte Numa eine Warnung sein sollen. Das Bild steckt in seinem Atlas, worin er die Strecke von Montevideo nach Santiago de Chile nachschlägt. Doch trotz des frühen Hinweises auf langes Warten in Schnee und Kälte lässt er sich von seinem Freund Gaston überreden, mit ihm und dessen Rugbymannschaft von Uruguay nach Chile zu fliegen.

Kenner der Katastrophen- und Filmgeschichte wissen, wie es in J. A. Bayonas Überlebensthriller Die Schneegesellschaft nun weitergeht. Das Flugzeug stürzt über den Anden ab, und diejenigen, die nicht sofort umkommen, haben einen harten Überlebenskampf vor sich, in dem ein urmenschliches Tabu gebrochen wird: das Essen von Leichen.

Wahre Ereignisse

Die auf einer wahren Geschichte basierende Katastrophe ist als "Wunder der Anden" bekannt. Als die sechzehn überlebenden jungen Männer im Dezember 1972 nach 72 Tagen auf 4000 Meter Höhe gerettet wurden, feierte man sie als Helden. Es handelt sich um eine solch spektakuläre Geschichte, dass sie es bereits zweimal auf die große Leinwand geschafft hat: einmal in René Cardonas Survive! aus dem Jahr 1976, ein weiteres Mal 1993 in Frank Marshalls Hollywood-Film Alive mit Ethan Hawke in der Hauptrolle.

Im Kino wird die neue Fassung, die sich diesmal beim Titel mehr Mühe gegeben hat, zumindest hierzulande nicht zu sehen sein. Der spanische Auslandsoscar-Kandidat Die Schneegesellschaft startet wieder einmal nur auf Netflix. Schade, denn die zwischen Wrackklaustrophobie und Bergpanorama wechselnden Bilder kämen auf der großen Leinwand weit besser zur Geltung als auf dem Laptop. Und auch das verpflichtete Sitzenbleiben im Kinosessel für die Dauer von fast zweieinhalb Stunden täte dem Einfühlen in die ausweglose Lage der Protagonisten gut.

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Neuer Netflix-Oscarhit?

Regisseur J. A. Bayona hat bereits eine Überlebensgeschichte gedreht und mit Das Waisenhaus (in dem Geraldine Chaplin übrigens ein Medium spielt) auch Erfahrung im atmosphärischen Arthouse-Horrorfach gesammelt. Effektreiches Katastrophenkino im Hollywood-Stil übte er zuletzt in Jurassic World: Dasgefallene Königreich. Trotz der wechselnden Genres steht fest: Der Spanier interessiert sich für das Überleben in Ausnahmesituationen.

Dabei erinnert Bayonas Horrortrip in die Anden auch ein wenig an Netflix’ letztjährigen Oscar-Hit Im Westen nichts Neues: Junge Männer brechen freudig in ein Abenteuer auf und landen in der Hölle – bei Berger war es der Schützengraben, bei Bayona ist es das Gletschereis. Trotz der drastischen Situation verfällt Die Schneegesellschaft jedoch nicht ins Exploitative. Wie der Titel schon vorwegnimmt, geht es Bayona weniger ums Überleben durch Kannibalismus als um das Zusammenleben in einer Extremsituation. Den Verstorbenen versucht Bayona ein Denkmal zu setzen, indem er sie namentlich ins Bild rückt und der Trauer und den Schuldgefühlen der Überlebenden Raum gibt.

Der reale Horror

Der reale Horror wird dennoch in vielen Momenten körperlich spürbar: Dann etwa, wenn die Maschine von einer Bergkette entzweigerissen, die Hälfte der 45 Insassen aus dem Flugzeug geschleudert wird.

Das Hungern, Frieren und der moralische Konflikt übertragen sich durch die großartige Besetzung direkt auf das Publikum, ebenso wie die Entmutigung, als in einem seltenen fröhlichen Moment eine Lawine auf die sich im Flugzeugwrack wärmenden Menschen niedergeht und der Kampf gegen den Schnee von vorn beginnt. Wie es ausgeht, wissen wir – fesselnd ist es trotzdem. (Valerie Dirk, 5.1.2024)