The Line soll den Städtebau revolutionieren. Der Fortschritt wird mit Blut bezahlt.
NEOM

Glaubt man den Angaben des saudi-arabischen Kronprinzen, dann steht die Welt vor einer zivilisatorischen Revolution, ausgelöst durch ihn selbst, Mohammed bin Salman. Schließlich ist er Vorsitzender von Neom, einem der größten Bauprojekte, das je ersonnen wurde. Im klimatisch gemäßigteren Nordwesten Saudi-Arabiens in der Provinz Tabuk soll eine Utopie entstehen. Das Unternehmen möchte mit einem Handstreich nicht nur den Städtebau neu erfinden. Nein, auch die Industrie und der Tourismus sollen in die Zukunft geführt werden. Dafür wird eine Fläche von 26.500 Quadratkilometern in der Wüste umgebaut. Das entspricht fast der Größe von Belgien.

Kernstück des 800 Milliarden US-Dollar teuren Projekts ist The Line. Eine futuristische, KI-gesteuerte Stadt. 500 Meter hoch, nur 200 Meter breit, aber dafür 170 Kilometer lang, mit einer Fassade aus verspiegeltem Glas. Sie soll sich vom Golf von Akaba über das 2.500 Meter hohe Hedschas-Gebirge bis zu den im Binnenland vorzufindenden Wadis erstrecken. Bis 2045 sollen neun Millionen Menschen hier leben können. Das alles klimaneutral in der Utopie einer smarten Stadt.

Der Hausmeister von The Line

"Neom The Line besteht zu 95 Prozent aus Natur, eine Stadt ohne Autos, ohne Straßen, ohne CO2 -Emissionen, eine Stadt für eine Million Einwohner, die hier mit Hochgeschwindigkeitszügen, künstlicher Intelligenz und nachhaltiger Energiegewinnung aus Windkraft, Sonnenenergie und Wasserstoffkraftwerken ein Zuhause finden sollen", sagt Salman, der seit Monaten die Werbetrommel für sein Megaprojekt rührt. Bei einem versteckten Hafen für Yachten und Kreuzfahrtschiffe beginnend, fräst sich The Line durch die Wüste, am anderen Ende der Stadt soll ein internationaler Flughafen entstehen.

Die Baustelle von The Line. Noch ist von den utopischen Ambitionen wenig zu sehen.
Giles Pendleton

Die Stadt selbst soll in Gemeinden oder Stadtbezirke zu je 80.000 Einwohnern gegliedert werden. Diese Abschnitte sollen alles bieten, was die Menschen zum Leben brauchen, und sämtliche Infrastruktur, von Supermärkten, Schulen, Büros, Kindergärten, Apotheken, Freizeiteinrichtungen bis zur U-Bahn-Station, soll binnen fünf Gehminuten erreichbar sein, verspricht Giles Pendleton. Der australisch-südafrikanische Doppelstaatsbürger ist als Chief Operating Officer so etwas wie Bauaufsicht, Immobilienentwickler und Hausmeister von The Line. Pendleton spricht gern von "vertikalem Urbanismus", wenn er davon schwärmt, dass es in der Wüstenstadt weder achtspurige Autobahnen noch riesige Parkplätze geben wird. Auf den 34 Quadratkilometern von The Line werde Neom das erreichen, wofür London 1.600 Quadratkilometer Fläche verbraucht.

The Line ist echt, sagt der Baumeister

Die 170 Kilometer lange Stadt soll binnen 20 Minuten von einem Ende zum anderen zu durchqueren sein. Von Ost nach West soll ein über 500 Stundenkilometer schneller Hochgeschwindigkeitszug die Unterbezirke miteinander verbinden. Das alles klingt nach einer Utopie, sei aber real umsetzbar, sagt der Stadtplaner Pendleton, der sich sehr bemüht, die Weltöffentlichkeit am Baufortschritt teilhaben zu lassen. Jüngst sollen über 100 Millionen Kubikmeter Erdreich für die Marina bewegt worden sein. Pendleton zeigt auf seiner Linkedin-Seite auch gern Luftaufnahmen, wie sich die Baugrube der städtebaulichen Fantasie durch die Wüste zieht. Der Laie vermag darauf von einigen Baustellenzufahrten abgesehen nur eine Menge Sand zu erkennen, aber Pendleton versichert, dass The Line sehr real ist und der Bau planmäßige Fortschritte macht.

Das luxuriöse Bergressort Trojena.
NEOM

Neom ist aber noch viel mehr, auch wenn The Line das Kernstück ist. Im Golf von Akaba soll sich alles um Tourismus drehen. Im Gebirge soll das Luxus-Skiressort Trojena entstehen, im Leyja-Tal drei Edelhotels für Öko-Touristen aus dem Boden gestampft werden. Das Epicon-Ressort an der Küste ist ebenfalls klassisch touristisch und könnte mit dem Wellnesshotel und den Strandvillen auch in Dubai stehen. Dazu kommen noch der Badeort Siranna und die Kulturdestination Utamo. Sindala ist zweifelsohne das größte Tourismusprojekt: Eine eigene Insel im Roten Meer soll Touristen anlocken. Die Zielgruppe dürfte aber eher aus den finanzkräftigen Bevölkerungsschichten kommen, werden doch Anlegestellen für Yachten sowie die Vorzüge des Golfspiels beworben.

Oxagon soll eine schwimmende Industrie- und Hafenstadt im Roten Meer werden. Die Rede ist vom Einsatz modernster Technologie sowie des Internets der Dinge, von KI und der Verschmelzung von Mensch und Maschine. Wie der schwimmende Hafen aber funktionieren soll, ist nicht klar.

Eine Datendystopie

Doch wozu das alles? Saudi-Arabien sucht dringend einen Ausweg für die Zeit nach dem Öl – und gibt das auch offen zu. Bis 2030 soll sich das Land in eine Hightech-Nation verwandeln, statt fossilen Treibstoff aus dem Wüstenboden zu pumpen. The Line ist also so etwas wie eine 800 Milliarden Dollar teure Wette auf die Zukunft. Doch ist das Vorhaben überhaupt durchführbar? Daran haben europäische Experten ihre Zweifel.

"Eine lineare Form ist die am wenigsten effiziente Form einer Stadt. Es gibt einen Grund, warum die Menschheit 50.000 Städte hat und alle mehr oder weniger rund sind", betont Rafael Prieto-Curiel vom Complexity Science Hub (CSH) Vienna. Neun Millionen Menschen sollen auf 34 Quadratkilometern leben – das entspricht einer Bevölkerungsdichte von 265.000 Menschen pro Quadratkilometer – zehnmal dichter als Manhattan und viermal dichter als die inneren Bezirke von Manila, die als die am dichtesten besiedelten Stadtviertel der Erde gelten.

Das schwimmende Industriegebiet Hexagon.
NEOM

Gleichzeitig warnen Datenschützer vor einer nahezu dystopischen Überwachung in der smarten Megastadt. Heutige Smart Cities verwenden etwa zehn Prozent der Daten, die über ihre Einwohner bzw. Nutzer erhebbar und verfügbar sind. Bei The Line sollen es 90 Prozent sein. Die Stadt, so erklärt es der Londoner Thinktank Chatham House, solle andere smarte Städte weit überflügeln, weil sie nicht auf bestehenden Strukturen aufbaut, sondern vom Start weg darauf ausgerichtet ist, Daten zu erfassen und diese für das Management der Stadt zu nutzen.

Autoritäre Ambitionen

Bei der Berliner NGO für digitale Rechte, Access Now, befürchtet man, dass bin Salman hinter der modernen Fassade eigentlich autoritäre Ambitionen weiter vorantreibt. Der Kronprinz gibt sich nach außen zwar stets als Reformer, sein Umgang mit Kritikern spricht aber eine andere Sprache. Er soll laut dem US-Geheimdienst CIA persönlich die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi angeordnet haben. Saudi-Arabien arbeitet nun auch verstärkt mit China zusammen. Staatspräsident Xi Jinping soll zugesagt haben, mächtige Überwachungstechnologien für Neom zu liefern. Der Hintergedanke, so ein Forscher der Harvard University, dürfte sein, dass Xi seine Vorstellung eines staatlich gesteuerten Cyberspace und vollständig überwachter Öffentlichkeit normalisieren will.

Dazu kommt, dass das Königshaus in Riad wenig Skrupel hat, die in Tabuk ansässigen Beduinen zu vertreiben. Rund 20.000 Menschen sollen durch Neom ihre Heimat verlieren. Abdul Rahim al-Huwaiti, Mitglied des Howaitat-Stammes, machte schon 2020 in einem Video darauf aufmerksam, dass die saudischen Sicherheitskräfte ihn und seine Familie mit Gewalt verjagen wollen, und wurde kurz darauf ermordet aufgefunden. Er hatte eine Kugel im Kopf. (Peter Zellinger, 16.1.2024)