Im Norden Saudi-Arabiens, rund 85 Kilometer östlich von Sharm el-Sheikh, entsteht gerade eine ungewöhnliche Millionenstadt: "The Line" soll sich über 170 Kilometer von den Bergen bis zum Roten Meer erstrecken, wenn sie 2040 fertiggestellt ist – so zumindest lautet der Plan. Die linienförmige Metropole ist ein Projekt des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, der sich zumindest in technologischer Hinsicht der Modernisierung des Landes verschrieben hat. Möglicherweise entpuppt sich das Konzept aber als Pendler-Albtraum.

Science-Fiction

Tatsächlich klingt vieles, was in Zusammenhang mit "The Line" angekündigt worden ist, wie Science-Fiction: "The Line" soll aus zwei ununterbrochenen Reihen von Wolkenkratzern bestehen, mit Lebensraum dazwischen, 200 Meter breit und mit 500 Metern höher als jedes Gebäude in Europa, Afrika und Lateinamerika. Fliegende Taxis und Roboterdiener soll es dort geben, die Infrastruktur würde unter die Erde verlagert und soll vollautomatisiert gesteuert sein, hieß es. "The Line" ist Herzstück des Projekts "Neom", das auch eine künstliche Insel und ein Luxus-Ferienparadies vorsieht.

The Line Saudi-Arabien Neom
Sollte "The Line" wie geplant vollendet werden, erstreckt sie sich über 170 Kilometer zwischen der Küste und den Bergen.
Foto: APA/AFP/NEOM/-

Gehen zumindest die Baupläne auf, sollen ab 2030 bereits 1,5 Millionen Menschen "The Line" bevölkern, bis 2045 könnten es bis zu neun Millionen sein. Die Erdarbeiten wurden bereits im November 2021 begonnen, an den 70 Meter tiefen Löchern für das Fundament von "The Line" wird derzeit gearbeitet. Ob sich die künftigen Bewohner der "Stadt der Zukunft" auch wohlfühlen werden, wird mittlerweile von verschiedenen Seiten angezweifelt. Nun kritisieren auch Wiener Komplexitätsforscher das Konzept: Große Entfernungen würden die Hälfte der Bevölkerung zu langen Pendelstrecken zwingen, schreibt das Team im Fachjournal "npj Urban Sustainability" und empfiehlt stattdessen einen kreisförmigen Aufbau.

Ineffiziente Stadtform

"Eine lineare Form ist die am wenigsten effiziente Form einer Stadt. Es gibt einen Grund, warum die Menschheit 50.000 Städte hat und alle mehr oder weniger rund sind", betont Rafael Prieto-Curiel vom Complexity Science Hub (CSH) Vienna, der gemeinsam mit Dániel Kondor kürzlich eine Studie zur Einordnung des Projekts veröffentlicht hat. Neun Millionen Menschen sollen auf 34 Quadratkilometern leben – mehr als in jeder anderen Stadt Saudi-Arabiens. Das entspricht einer Bevölkerungsdichte von 265.000 Menschen pro Quadratkilometer – zehnmal dichter als Manhattan und viermal dichter als die inneren Bezirke von Manila, die als die dichtestbesiedelten Stadtviertel der Erde gelten. Die Stadt wird also unglaublich lang, extrem hoch und überraschend dicht, so die Forscher.

Eine Schlüsselrolle für den Erfolg von Städten spiele die Mobilität. In vielen Aspekten des Projekts würden eine nachhaltige Herangehensweise und ein minimaler Fußabdruck betont. So soll ein Hochgeschwindigkeitsbahnsystem das Rückgrat des öffentlichen Verkehrs bilden. Die hohe Dichte ermögliche zudem, dass viele Dienstleistungen fußläufig oder per Fahrrad in wenigen Minuten erreichbar seien, weshalb auf Autos verzichtet werden könne, streichen die Planer hervor.

The Line Neom Saudi-Arabien
Zumindest die veröffentlichten PR-Renderings versprechen pures Science-Fiction-Feeling.
Foto: APA/AFP/NEOM/-

Große Distanzen ...

Ein durchaus lobenswertes Ziel, meinen die Forscher. Allerdings würden zwei zufällig ausgewählte Personen in "The Line" durchschnittlich 57 Kilometer voneinander entfernt wohnen. Im flächenmäßig 50-mal größeren Johannesburg seien es hingegen nur 33 Kilometer. Berücksichtigt man eine Gehdistanz von einem Kilometer, leben den Berechnungen zufolge nur 1,2 Prozent der Bevölkerung fußläufig voneinander entfernt.

Städte seien zudem mehr als eine Ansammlung von halb isolierten Vierteln, die im Abstand von 15 Minuten nebeneinander liegen. "Was eine Stadt von kleineren Siedlungen unterscheidet, ist nicht nur ihre Größe, sondern vor allem die zusätzlichen Möglichkeiten außerhalb der unmittelbaren Nachbarschaft wie Konzerte oder eine weitläufige Arbeitssuche. Aus diesem Grund müssen wir den stadtweiten Verkehr berücksichtigen", gibt Kondor zu bedenken.

... und lange Fahrten

Damit alle Menschen eine Station der Hochgeschwindigkeitsbahn in wenigen Gehminuten erreichen könnten, müsse es aber mindestens 86 Stationen geben. Das habe wiederum zur Folge, dass die Züge zwischen zwei Bahnhöfen keine hohen Geschwindigkeiten erreichen. Eine Fahrt würde daher im Durchschnitt 60 Minuten dauern, mindestens 47 Prozent der Bevölkerung müssten sogar noch länger pendeln. Die Menschen wären jedenfalls länger unterwegs als in vielen anderen Großstädten.

Video: Das Projekt Neom schreitet voran.
NEOM

Vorteilhafter wäre es, die Stadt kreisförmig aufzubauen – also "The Circle" statt "The Line". Würde man für diese Alternativvariante die gleiche Fläche von 34 Quadratkilometern vorsehen, hätte der Kreis einen Radius von nur 3,3 Kilometern. Die durchschnittliche Entfernung zwischen zwei Personen würde 2,9 Kilometer betragen. Rund ein Viertel der Bevölkerung (24 Prozent) wäre einen Kilometer voneinander entfernt, 66 Prozent lägen innerhalb von zwei Kilometern. Das würde ein Hochgeschwindigkeitsbahnsystem überflüssig machen, da die meisten Orte zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar wären. Der Rest könnte mit Bussen versorgt werden.

Lieber "The Circle"

Eine runde Stadtform sei die wünschenswerteste, da sie die Pendlerentfernungen verkürze und den Energiebedarf für den Transport reduziere. "The Line" dürfte also eher Werbegag als Öko-Stadt der Zukunft sein: "Insgesamt gesehen liegt die Vermutung nahe, dass andere Erwägungen bei der Wahl dieser einzigartigen Form eine Rolle gespielt haben könnten, wie zum Beispiel das Branding oder die Erstellung ansprechender Videos in den sozialen Medien", so Prieto-Curiel. (red, APA, 27.6.2023)