Hall mit weißer Weste und weißem Haarband bekommt einen Orden angesteckt
Virginia Hall erhält in einer privaten Zeremonie das Distinguished Service Cross der Vereinigten Staaten.
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Virginia Hall sieht die hellen Tropfen roten Bluts dort, wo sie durch den Schnee gehumpelt ist. Endlich setzt sich ihr Bergführer auf einen Fels und gönnt ihr eine Pause. Hinter ihr fällt Südfrankreich gerade an die Nationalsozialisten, vor ihr wartet das sichere Spanien. Hall sitzt dazwischen, in 2.300 Metern Höhe auf einem eiskalten Gebirgspass in den Pyrenäen. Der Bergführer hätte sie nie mitgenommen, hätte sie ihm erzählt, was sie unter ihren dicken Röcken verbirgt.

"Hoffe, Cuthbert macht keine Probleme", hat sie vor ihrer Flucht noch nach London gefunkt. Und irgendein ahnungsloser Beamter hat geantwortet: "Wenn Cuthbert Probleme macht, eliminiere ihn." Vielleicht hat das Virginia Hall ein grimmiges Grinsen entlockt. Cuthbert ist ihre Beinprothese. Mit ihrem Rock tupft sie das Blut daran ab, dann steht sie auf und stapft weiter durch den Schnee, Spanien entgegen.

Keine Diplomatin mit Behinderung

Virginia Hall ist es gewöhnt, dass man sie unterschätzt. Mehrfach hat sich die US-Amerikanerin für den diplomatischen Dienst ihrer Heimat beworben, jedes Mal hat man sie abgelehnt. Hall spricht fünf Sprachen, hat an Eliteuniversitäten studiert und in US-Botschaften in Europa gearbeitet. Doch es sind die 1930er-Jahre, und die forsche junge Frau ist den Verantwortlichen nicht geheuer. Erst geht ihre Bewerbung "verloren", dann nennt man ihr bewusst falsche Termine für die Auswahlverfahren.

Einen vermeintlich triftigen Grund für die Absagen liefert erst ihr Unfall. Als Hall auf einem Jagdausflug über einen Zaun klettert, verfängt sich das Gewehr in ihrem Mantel. Ein Schuss löst sich und trifft ihr linkes Bein. Im Spital bekommt Hall Wundbrand und gleitet in ein Koma ab. In einem letzten Versuch, ihr Leben zu retten, amputieren die Ärzte ihr Bein unterhalb des Knies. Hall überlebt. Sie bekommt eine Beinprothese, gibt ihr den Namen Cuthbert – und bewirbt sich erneut als Diplomatin.

Die nächste Absage ist final: Ein Mensch mit einer Behinderung, wie sie nun einer ist, könne das Land nicht vertreten. Hall schreibt einen Beschwerdebrief an den damaligen US-Präsidenten Roosevelt, der selbst bekanntermaßen einen Rollstuhl nutzte, und bekommt nie eine Antwort. Sie kündigt ihren Botschaftsjob und zieht nach Frankreich. Dann bricht der Zweite Weltkrieg aus.

Eine junge Virginia Hall.

Die Spionin, die Bordellbesitzerin und der Frauenarzt

Hall wird Rettungswagenfahrerin für die französische Armee. Noch sind die USA nicht in den Krieg eingetreten, und dank ihrer Papiere kann sie unbehelligt Verwundete transportieren. Frankreich verlässt sie erst, als im Frühsommer 1940 die NS-Truppen einmarschieren. Als sie mit anderen Geflüchteten auf die Überfahrt nach Großbritannien wartet, spricht sie ein Mann an. Was macht sie, eine US-Amerikanerin aus gutem Hause, allein mitten im Krieg? Er hört aufmerksam zu, dann gibt er ihr eine Telefonnummer. Sie solle dort anrufen, wenn sie in London eintrifft, es gebe einen Job für sie.

Wenig später steht eine Mittdreißigerin mit rötlichem Haar und Beinprothese im Büro des Special Operations Executive (SOE). Es ist der eben erst gegründete Nachrichtendienst Großbritanniens, Vorläufer des heutigen MI6. Hall spricht fließend Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Russisch; sie hat in Frankreich gelebt, ist als Frau unauffällig und benötigt als Amerikanerin überdies nicht einmal falsche Papiere. Sie ist die perfekte Spionin. Nach einer kurzen Ausbildung bekommt sie eine Tarnidentität als Korrespondentin der "New York Post" und wird nach Frankreich geschickt.

Das SOE, so formuliert es Churchill, soll Europa in Brand setzen. Doch als Hall in Lyon eintrifft, hat sie keine Kontakte, kein Netzwerk und keine Möglichkeit, Botschaften nach London zu senden. Die Stadt aber ist das Zentrum des Widerstands in Vichy-Frankreich. In einem Frauenarzt und einer Bordellbesitzerin findet Hall ihre Verbündeten. Die Sexarbeiterinnen horchen die deutschen Soldaten aus, die sie aufsuchen. Der Arzt stellt jenen Frauen, die an sexuell übertragbaren Krankheiten leiden, ein falsches Gesundheitszeugnis aus. Die Soldaten werden nicht nur ausgehorcht, sondern auch angesteckt. Hall kann einen US-amerikanischen Botschaftsmitarbeiter überzeugen, die Informationen im Diplomatengepäck außer Landes zu schmuggeln. Ihr Netzwerk bekommt den Codenamen "Heckler" – Zwischenrufer.

Das "hinkende kanadische Miststück"

Hall bleibt behutsam und vorsichtig. Als zwölf andere SOE-Agenten in Marseille zusammenkommen, bleibt sie dem Treffen fern. Es wird gestürmt, alle Männer werden verhaftet, und der Geheimdienst verliert auf einen Schlag fast alle Agenten in Südfrankreich. Nur Hall ist weiter frei und hält Kontakt zu London.

Seit der Razzia ist sie in akuter Gefahr. Die französische Polizei und die Gestapo wissen nun, dass eine Frau mit Beinprothese für Großbritannien spioniert. Nach Hall wird gefahndet, ihre Offiziere in London wollen sie abziehen. Doch sie widersetzt sich dem Befehl: Hall will die Agenten aus dem Gefängnis von Mauzac befreien.

Sie überredet die Frau eines Häftlings, Werkzeug und Sardinendosen in das Lager zu schmuggeln. Aus dem Blech stellt einer der Agenten eine Kopie des Zellenschlüssels her. Ein verbündeter Priester bringt den Männern unter seinem Habit ein Funkgerät. Schließlich inszeniert Hall einen misslungenen Alkoholschmuggel nach Mauzac. Während sich die Wärter betrinken, fliehen die verhafteten Agenten. Alle zwölf Männer kehren unbeschadet nach Großbritannien zurück.

Der Ausbruch ist ein Schlag ins Gesicht der Nationalsozialisten. Die deutsche Abwehr flutet Südfrankreich mit hunderten Agenten. Sie sollen alle Netzwerke zerschlagen. Der für seinen Sadismus berüchtigte Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, fixiert sich auf Hall. "Ich gäbe alles, um das hinkende kanadische Miststück in die Finger zu kriegen", wird ihm als Zitat zugeschrieben. Dass er ihre wahre Nationalität nie kannte, hingegen Virginia Hall als Verdienst.

Schließlich gelingt es einem Agenten der Abwehr, trotz Halls Misstrauen, ihr Netzwerk zu infiltrieren. Kurz darauf marschieren die Nazis auch in Südfrankreich ein. Hall verlässt Lyon, ohne jemanden zu informieren, und flieht über die Pyrenäen. Den unwegsamen Chemin de la Liberté, den Pfad in die Freiheit, meistert sie trotz Schnee, Schmerzen und Beinprothese binnen zwei Tagen.

Von der Milchbäuerin zur Partisanenchefin

Zurück in London wird sie für ihre Verdienste in den Order of the British Empire aufgenommen. Trotz ihrer Bitten weigert sich das SOE, sie erneut nach Frankreich zu entsenden. Ihr Netzwerk ist zerschlagen, viele ihrer Mitstreiter sind deportiert. Die "Limping Lady" ist leicht zu erkennen, eine Rückkehr wäre lebensgefährlich. Hall nimmt die Absage zur Kenntnis – und wendet sich an das eben gegründete Office of Strategic Services (OSS), das US-amerikanische Pendant des SOE.

Das OSS will die Résistance in Südfrankreich mit Waffen ausstatten und militärisch trainieren. Durch Sabotage sollen die Partisanen anschließend die alliierte Invasion in der Normandie vorbereiten. Hall nimmt den Auftrag an. Doch trotz ihrer Erfahrung traut man ihr die Führung einer Zelle nicht zu. Sie wird zusammen mit einem Agenten entsandt, den sie als Funkerin unterstützen soll. Im Frühling 1944 landen sie gemeinsam in Frankreich, doch Hall setzt sich nach kurzer Zeit ab. Sie hält ihren Kollegen für ein Sicherheitsrisiko.

In den Monaten danach taucht südlich von Paris immer wieder eine alte Milchbäuerin auf. Hall trägt ihr Haar grau, hat ihre Zähne abschleifen lassen und kaschiert ihren Gang als das Schlurfen einer alten Frau. Sie organisiert nächtliche Waffenlieferungen, stattet hunderte Mitglieder der Résistance aus und etabliert sichere Zufluchtsorte. Tagsüber verkauft sie Käse auf den Märkten der Region – auch an deutsche Soldaten.

Ein Résistance-Kämpfer erklärt einem jungen Mann sein Gewehr.
Partisanen im südfranzösischen Bergland im Jahr 1944.
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Im Sommer 1944 erhält Hall einen neuen Auftrag. Sie gibt ihre Tarnung auf und reist ins französische Zentralmassiv. In den Bergen soll sie Partisanen trainieren. Doch deren Anführer lassen sich von Hall nichts sagen. Sie mag hart und kampferfahren sein, ihr Bein verloren und ihre Zähne abgeschliffen haben – sie ist eine Frau. Über Wochen ringt Hall mit ihnen um die Kontrolle über die Truppen. Dann organisiert sie drei Flugzeuge voll Waffen und Munition – und koordiniert fortan die 1.500 Partisanen. Sie überziehen die Region rund um den D-Day mit Angriffen und Sabotageakten und vertreiben die deutschen Truppen aus dem Département Haute-Loire. Als der OSS-Agent Paul Golliot eintrifft, um beim Training der Partisanen zu helfen, findet er sie nicht mehr vor. Die Mission ist erfolgreich beendet, die Region befreit und Hall einigermaßen verwundert. Golliot mag zu spät gewesen sein, doch in Halls Leben wird er bleiben – als ihr Mann.

Unterschätzte Veteranin

Nach dem Krieg wird die OSS zur CIA, und Virginia Hall die erste Frau in ihren Reihen. Doch sie erhält nur einen Schreibtischjob als Analystin. Ihre Expertise und Fähigkeiten werden nie genützt. "Sie wussten nichts mit ihr anzufangen", schreibt ein Kollege später. "Sie war eine Art Beschämung für diese CIA-Typen ohne Kampferfahrung." Der Geheimdienst räumt später offiziell ein, Hall wegen ihres Geschlechts diskriminiert zu haben. Im Ruhestand zieht sie mit ihrem Mann auf einen Bauernhof in Maryland und spricht nie wieder über den Krieg. Als Präsident Truman ihr das Distinguished Service Cross verleihen will, schlägt Hall eine öffentliche Zeremonie aus. So bekommt die einzige Zivilistin, die im Zweiten Weltkrieg diese Auszeichnung erhält, den Orden privat in einem Büro angesteckt.

Im Sommer 1982 verstirbt Virginia Hall mit 76 Jahren. Erst nach ihrem Tod werden ihre Leistungen wieder entdeckt. Heute trägt ein Trainingscenter der CIA ihren Namen. (Ricarda Opis, 12.1.2024)