Was und welche Erotik ist in einer Patchworkfamilie erlaubt, fragt Catherine Breillats Film
Was und welche Erotik ist in einer Patchworkfamilie erlaubt, fragt Catherine Breillats Film "L'été dernier" ("Im letzten Sommer").
Alamode Film

Wir sind eine Familie, sagt Anne an zentraler Stelle. Sie ist eine der Hauptfiguren in Catherine Breillats Film L'été dernier (Im letzten Sommer) und sollte der Vollständigkeit halber ein Wort hinzufügen, denn sie lebt in einer Patchworkfamilie. Ihr Mann Pierre hat einen 17 Jahre alten Sohn, Théo, bei dessen Erziehung er viel falsch gemacht hat. Später haben Pierre und Anne zwei Mädchen aus Asien adoptiert, um die sich nun fast alles dreht.

Anne (Léa Drucker) arbeitet als Familienanwältin, sie weiß also beruflich, was so alles passieren kann im Zeichen dieses scheinbar so selbstverständlichen und für jeden Menschen unumgänglichen Worts: Familie. Anne und Théo sind also im strengen Sinn nicht miteinander verwandt. Sie leben aber unter einem Dach, und irgendwann geschieht etwas zwischen ihnen, das alles verändert. Sie beginnen ein Verhältnis. Eine "liaison", so der französische Begriff, der zwischen Beziehung und Affäre bezeichnend schillert.

Lust an Eskalation

Catherine Breillat lässt bewusst offen, was zwischen Anne und Théo alles eine Rolle spielt. Begehren sicher, aber Pierre als der Dritte in diesem Verhältnis ist jederzeit implizit präsent. Théo sucht vielleicht eine Provokation, eine Möglichkeit, diese Familie zu sprengen, in die er schlecht integriert ist. Und er hat alles in der Hand, um die Lust zerstörerisch eskalieren zu lassen.

Alamode Film

Catherine Breillat ist im französischen Kino eine ausgewiesene Expertin für die Facetten der Sexualität. 2004 kam ihre Karriere nach einem Schlaganfall beinahe zum Stillstand, davor hatte sie unter anderem mit Romance Aufsehen erregt, in dem sie den Pornostar Rocco Siffredi als Schauspieler besetzte, dessen Profitorgan aber auch bei ihr explizit zu sehen war. Eine Gratwanderung zwischen den Genres, wie schon frühere Filme von ihr wie 36 fillette (Lolita 90) über das sexuelle Erwachen einer 15-Jährigen.

L'été dernier ist eine Neubearbeitung des dänischen Films Queen of Hearts (Königin, 2019). Pascal Bonitzer hat beim Drehbuch geholfen. Der Film ist stark gespielt und subtil inszeniert. Es geht nie einfach um Libertinage, jede Geste und jeder Liebesakt ist Ausdruck spontaner Lust und zugleich so etwas wie ein Symptom, eine Ausdrucksform für das, was zwischen Anne, Pierre und Théo untergründig vor sich geht.

Breillat hebt schließlich nicht so sehr auf den moralischen Skandal ab, sondern interessiert sich vor allem für einen Aspekt, der auch in den vielen MeToo-Angelegenheiten entscheidend ist: Wie geht man vor, wenn Aussage gegen Aussage steht? Was ist Wahrheit, wer hat die Macht, seine Version durchzusetzen? All das spielt L'été dernier bis zu einem angemessen offenen Ende virtuos durch. (Bert Rebhandl, 10.1.2024)