Jelly Roll ist ein eher ungewöhnlicher Popstar in den USA und für zwei Grammys nominiert.
Jelly Roll ist ein eher ungewöhnlicher Popstar in den USA und für zwei Grammys nominiert.
EPA/MICHAEL REYNOLDS

Dankesreden und Schleimspuren sind eng verwandt, feucht obendrein. Oscar- und Grammy-Empfänger beweisen das in den ihnen für ihre Dankesworte zugestandenen 30 bis 60 Sekunden immer wieder. Es ist stets ein brav verinnerlichtes Manager-dies-, Label-das-Blabla, gewürzt mit Dank an Mutti, Mausi, Gott ... – die übliche Buchstabensuppe ohne Geschmack. Der US-Musiker Jelly Roll ist da keine Ausnahme. Und doch eskalierte letztes Jahr seine Dankesrede bei den Country Music Awards in Richtung Erweckungsgottesdienst.

Er donnerte in den Saal, dass niemand je aufgeben solle, denn wenn er mit seiner ramponierten Biografie, mit seinen 39 Jahren als "Best New Artist" ausgezeichnet werde, dann könnten andere das ebenfalls schaffen, es sei nie zu spät.

Jelly Roll Wins the 2023 CMA Award for New Artist of the Year - The CMA Awards
ABC

Der zweisitzig gebaute Musiker brachte damit das Publikum von Nashville aus den Sesseln, später viralisierte sich seine verbale Explosion im Netz. Man darf gespannt sein, was passiert, sollte er am Sonntag in Los Angeles bei den 66. Grammy Awards gewinnen.

Der Grammy gilt als die bedeutendste Auszeichnung der Musikindustrie – und das ist zugleich sein größtes Manko. Denn es geht dabei weniger um eine künstlerische Bewertung als um die Anerkennung des kommerziellen Erfolgs – plus der jeweiligen Zeitgeistwerte.

Jelly Roll ist gleich zwei Mal nominiert, einmal in der Kategorie "Best Country Group/Duo Performance" und erneut als "Best New Artist". Das ist ein Preis, den oft Leute in Empfang nehmen, die in den USA noch nicht einmal ein Lulu-Bier bestellen dürfen, Jelly Roll ist da gewissermaßen ein Methusalem. Doch er hat einen neuen, zweiten Karriereweg eingeschlagen.

Von Hip-Hop nach Country

Zuerst war der Mann aus Nashville Rapper und sattelte dann buchstäblich um – auf Country-Music. Wobei der Begriff dehnbar ist. Vieles von Jelly Rolls Musik ist konventionell gebauter Rock fürs Autofah-rerradio. Aber er punktet mit seiner Biografie, die mit dem Mythos der USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten konvergiert, das macht ihn heuer potenziell zu Grammy-Material.

Jelly Roll wurde 1984 mit schlechten Karten als Jason DeFord geboren. Die Mutter war psychisch krank und drogensüchtig, der Vater im Fleisch- und Wettgeschäft. Die zehn Jahre nach seinem 14. Geburtstag verbrachte er abwechselnd im Knast und auf Bewährung, erst mit 24 holte er im Gefängnis seinen Schulabschluss nach.

Tätowierungen im Gesicht

Er beschreibt seine Jugend als orientierungslose Zeit, die Tätowierungen in seinem Gesicht legen davon Zeugnis ab. In der Musik fand er schließlich seine Erfüllung, er war inspiriert und beeinflusst vom Südstaaten-Rap, wie ihn das Label Cash Money in New Orleans vertrieb. Er veröffentlichte seine Tracks auf Mixtapes und begann einen Youtube-Kanal zu betreiben – mit erheblichem Erfolg. Jelly Roll konnte eine Milliarde Besucher auf seinem Kanal vorweisen, bevor er einen Vertrag mit einer Plattenfirma abschloss. Und dabei erwies er sich als schlau und gut beraten: Jelly Roll besitzt alle Rechte auf seine Musik, von der Industrie brauchte er bloß den Vertrieb.

Jelly Roll - Save Me (New Unreleased Video)
Jelly Roll

Der Schwenk vom Hip-Hop zur Country-Music war für ihn logisch, in beiden Fächern steht das Storytelling im Mittelpunkt. Wobei er Hip-Hop nicht ad acta gelegt hat, er sieht seine musikalische Zukunft in allen Genres. Abseits der Musik verwendet er seine Popularität im Kampf gegen die Opioidkrise in den USA, er kennt Abhängigkeit und was sie anrichten kann aus nächster Nähe. Politisch vereinnahmen lassen will er sich nicht, er sei weder Republikaner noch Demokrat, das Wahlrecht hat er wegen seiner Strafdelikte ohnehin verspielt.

Seine Erfahrung verleiht der Musik Tiefe und Glaubwürdigkeit und illustriert ein anhaltendes Ringen mit der Vergangenheit. Obwohl er seit Jahren glücklich verheiratet und wohlhabend ist, plagen ihn die Dämonen; dem gegenüber steht aber sein immenser Optimismus. Ob er in der Nacht von Sonntag auf Montag ein oder zwei Grammys gewinnt oder nicht, sein Weg wird sich dadurch nicht wesentlich ändern. Dominiert wird der Reigen der Nominierten wieder von den prägenden Namen des Pop-Jahres. Mit neun erhielt SZA für ihr Album SOS die meisten Nominierungen, gefolgt von Victoria Monét mit sieben. Taylor Swift, Olivia Rodrigo, Boygenius, Billie Eilish und Miley Cyrus wurden mit sechs bedacht.

Unberechenbare Grammys

Die große Frage in der Branche ist, ob sich Taylor Swifts Popularität in Grammy-Gewinne übersetzen lässt. Das wäre logisch, doch gelten die Grammys als unberechenbar. Oft gehen scheinbar fix gesetzte Kandidaten leer aus. Bei Swift, so eine Vermutung, könnte ihre Omnipräsenz ein Problem für sie werden. Aber dass ausgerechnet der Superstar von 2023 leer ausgeht, wäre seltsam. In den Hauptkategorien zählen SZA, Swift, Rodrigo und Eilish zu den Favoriten. Ebenfalls gute Karten hat die Band Boygenius.

Der Rapper 21 Savage und der Country-Musiker Tyler Childers fiebern in fünf Kategorien, Doja Cat und Foo Fighters in dreien. In insgesamt 94 Kategorien werden die Grammys verliehen. Ob am Ende jemand dabei sein wird, der sich ähnlich freuen würde wie Jelly Roll? Man wird sehen. (Karl Fluch, 4.2.2024)