Der Germanist Michael Maar, 1960 geboren, lebt in Berlin.
Der Germanist Michael Maar, 1960 geboren, lebt in Berlin.
Bruno Maar

Würde Marcel Proust (1871– 1922) noch leben, wäre es gut möglich, dass er in dem Moment damit beschäftigt wäre, in "überhöflichen Briefen die Neujahrsgeschenke" zurückzuweisen, die er von Freunden erhalten hat. Von dieser Praxis berichtet der Literaturwissenschafter Michael Maar in seinem neuen Buch. Offiziell habe Proust angegeben, nach unglücklich verlaufenen Freundschaften gegenüber solchen Geschenken abergläubisch geworden zu sein. Maar spekuliert aber, Proust habe es eher nicht ertragen, anderen etwas zu schulden.

Es gibt viele solcher Anekdoten in Leoparden im Tempel. 2020 hat Maar in Die Schlange im Wolfspelz nicht ohne viel Subjektivität erklärt, warum manche Autoren bessere Bücher schreiben als andere. Nun konzentriert er sich auf das Hintergrundrauschen, vor dem Literatur entsteht, indem er zwölf Portraits großer Schriftsteller anfertigt – und da kann man den Band beim Wort nehmen, abseits von Virginia Woolf findet man darin tatsächlich nur Männer. Lebhaft, bunt zusammengefasst auf schlanken 140 Seiten.

Keine Scheu vor Superlativen

Schön daran ist, dass Maar keine Scheu vor Superlativen und Begeisterung hat. Die Märchen Hans Christian Andersens rechnet er "zu den sieben literarischen Weltwundern". Maar scheut aber auch nicht den effektvollen Kontrast. Man darf sich nicht erwarten, dass, wer hübsche Kunstmärchen schreibt, auch ein netter Mensch ist: Egoistisch, hypochondrisch, geizig und rücksichtlos sei etwa Andersen gewesen. Eine "böse Queen" wie jene aus seinen Märchen, führt Maar das Elend eng.

Queen? Die Lust an g’schmackigen Details kommt manchmal mit den Kosten im Schlepptau, dass der Band grell wird oder gar auf den Unterhaltungswert schielt. "In der Familie hieß sie nur Ziege; weil sie so dürr war", hält er über die familiäre Verluste und Wahn nur dank des Schreibens ertragende Woolf fest. Dennoch findet Maar von den hervorstechendsten Charaktereigenschaften, die er je diagnostiziert, stets verlässlich auf seine Art (aber mit angeführter Sekundärliteratur unterfüttert) näher zum Werk. "Eine Quelle der Spannung liegt darin, daß das erotisch Begehrte zu Lebzeiten verwehrt bleibt", deutet er Andersens kleine Meerjungfrau.

Neben Thomas Mann, Vladimir Nabokov und Elias Canetti taucht als weniger bekannter Name Gilbert Keith Chesterton (1874– 1936) auf. Der sei als Erzähler nicht klein, als Essayist aber ein "Riese", besonders die Texte zur Religion tun es Maar an. Seine in 100 Bänden hinterlassene Prosa ("plastisch, rhythmisch und musikalisch vollkommen durchgearbeitet") müsse jeden, "der ans Deutsche gefesselt ist, mit sehnsüchtigem Neid erfüllen". Man ist nun neugierig! (Michael Wurmitzer, 11.1.2024)