Helmuth Gsöllpointner hat derzeit eine Ausstellung im Schlossmuseum Linz. Seine Wohnung nutzt der Künstler als Arbeits- und Denkraum. So manche Notizen schreibt er nächtens direkt auf die Bettwäsche.

"Man bezieht eine Wohnung und hat dann einen Bezug dazu, quasi eine Beziehung. Wir wohnen im Körper, wir wohnen in der zweiten Haut der Kleidung, manchmal auch mit der Sicherheit und Geborgenheit eines Gebäudes, beispielsweise im Tauchanzug oder im Raumanzug hoch oben im schwerelosen ­Vakuum, und wir wohnen in der dritten Haut unserer Wohnungen, die uns Tag und Nacht umhüllen. Mich hat es immer schon fasziniert, mich mit diesen Hüllen zu identifizieren.

Helmuth Gsöllpointner in seiner Wohnung in Linz, wo er über Formen des Wohnens nachdenkt.
Helmuth Gsöllpointner in seiner Wohnung in Linz, wo er über Formen des Wohnens nachdenkt.
Dietmar Tollerian

Viele Raumskulpturen und Rauminstallationen wie etwa 1968 in der Begehbaren Plastik aus Porit, die in der Galerie Maerz zu sehen war, acht mal fünf mal drei Meter groß, also ziemlich ordentlich in den Dimensionen, beschäftigen sich mit genau diesem Thema. Es geht um den greifbaren Umraum, um das Ertasten der Wände, um das Rundherum-umhüllt-Sein von Materie, was uns geschichtlich bedingt sehr nah und vertraut erscheint, denn wir alle waren einmal Höhlenmenschen. Das Gegenteil davon sind große herrschaftliche Machträume wie etwa Kirchen, Schlösser, Burgen. Da kann man nichts mehr angreifen und begreifen, da ist man ein Fremdkörper, ein kleines, verlorenes Objekt auf weiter Flur. Ich finde diesen Gedanken schrecklich.

Ich bin jetzt 90 Jahre alt, und je älter ich werde, desto wichtiger wird das Ertasten nahe­gelegener Möbel, Wände und Umgrenzungen, denn mein Sehvermögen ist mittlerweile auf zehn Prozent geschrumpft. In der Sprache der Behörden bin ich blind, was aber nur zu 90 Prozent der Wahrheit entspricht. Ich sehe Flächen und Konturen, ich erahne die mir gewohnte Umgebung in einer mir gewohnten Erinnerung. Ich bin schon wie künstliche Intelligenz: Wenn ich auf der nächtlichen Straße einen Laternenschatten sehe, dann steige ich vorsichtig drüber, weil ich nicht weiß, ob das ein herumliegendes Hindernis oder bloß ein dunkler Schattenumriss ist.

Helmuth Gsöllpointner und seine Gattin haben jeweils eine 75 Quadratmeter große Wohnung.
Helmuth Gsöllpointner und seine Gattin haben jeweils eine 75 Quadratmeter große Wohnung: "Ganz ehrlich? Für mich ist das eines der Geheimnisse einer so langen, erfolgreichen Beziehung. Wir lieben uns noch immer."
Dietmar Tollerian

Aber das alles hindert mich nicht daran, eingeschränkter Sehsinn hin oder her, immer noch künstlerisch tätig zu sein. Erst letztes Jahr hat’s mich wieder einmal voll erwischt. Es ist über mich wie eine Welle, wie ein Tsunami übergeschwappt: Vier Monate lang war ich in einer künstlerischen Manie, habe kaum geschlafen, habe Tag und Nacht nur entworfen, geschnitten, geklebt und gebaut – riesige Stabräume aus Modellkarton, Tausende und Abertausende von Teilen zu einer dreidimensionalen Plastik vereint. Kunst kommt nicht von Können, es kommt von Müssen! Nach vier Monaten in nahezu sozialer Isolation war meine Frau Inge froh, dass das wieder vorbei war, dass ich hinter den Stäbchen wieder aufgetaucht bin.

Der Wohntraum von Helmuth Gsöllpointner: eine Wohnhöhle.
Der Wohntraum von Helmuth Gsöllpointner: eine Wohnhöhle.
Dietmar Tollerian

Wir wohnen hier seit den Neunzigerjahren, in Linz-Urfahr, nur wenige Minuten vom Mühlkreis-Bahnhof entfernt, und zwar in einem ziemlich miserablen Objekt von irgend so einem Möchtegern-Immobilienmenschen, von einem Schlitzohr mit viel Geschick und sichtlich wenig Talent. Meine Frau und ich ­haben jeweils eine 75 Quadratmeter große Wohnung, durch eine Türe in der Trennwand sind die beiden Wohnungshälften miteinander verbunden. Ganz ehrlich? Für mich ist das eines der Geheimnisse einer so langen, erfolgreichen Beziehung. Wir lieben uns noch immer.

Oft wacht Helmuth Gsöllpointner mitten in der Nacht auf, um sich Notizen zu machen.
Oft wacht Helmuth Gsöllpointner mitten in der Nacht auf, um sich Notizen zu machen.
Dietmar Tollerian

Außerdem ist mit mir eh nichts anzufangen. Ich wache oft mitten in der Nacht auf, ­voller Ideen und Gedanken, die ich sofort niederschreiben muss, neben dem Bett ein Haufen Zetteln mit Notizen, und manchmal notiere ich mit dem Filzstift im halbwachen Zustand – wie sich am Morgen dann herausstellen wird – so manchen Gedanken direkt auf die Bettwäsche. Überhaupt ist das Sinnieren ein wesentlicher Bestandteil meines Wohnens und meiner künstlerischen Arbeit. Ich sinniere über das Leben, über Formen des Wohnens, über die Möglichkeiten der Kunst.

Wovon ich träume? Von einer Wohn­höhle, von einem kleinen, intimen Versteck unterm Esstisch, mit irgendwelchen Decken und Tüchern verhängt, umgeben von ertastbaren Raumgrenzen. Da ist man also 90 Jahre alt – und wird plötzlich wieder zum Kind." (15.1.2024)