Demonstranten mit israelischen Flaggen.
Proisraelische Demonstranten vor dem Gerichtshof in Den Haag.
REUTERS/THILO SCHMUELGEN

Glatte "Verleumdung" sei der Vorwurf Südafrikas, Israel begehe im Gazastreifen einen Völkermord, sagte Tal Becker als Vertreter des israelischen Außenministeriums in seiner einleitenden Rede vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag am Freitag. Zugleich griff er Südafrika an: Das Land missbrauche Völkerrecht, um Israel international zu schaden, und es nehme die Terroristen der Hamas in Schutz. Denn eines sei erwiesen: Wenn jemand Genozid verübe, dann die Hamas – sowohl an israelischen als auch an palästinensischen Zivilisten.

Video: Israel nennt Völkermord-Vorwurf "völlig verzerrt."
AFP

Israels Vertreter fächerten detailreich auf, auf welche Weise die Hamas die Zivilbevölkerung als Kanonenfutter missbraucht – etwa durch den Bau von Tunneln unter Krankenhäusern, Schulen und Moscheen. Israels Armee hingegen, so argumentierten sie, tue alles, um die Menschen in Gaza vor drohenden Angriffen zu warnen und so den Schaden an Zivilisten zu minimieren. Warum die Zahl der toten Zivilisten dennoch so hoch ist, konnten die Juristen nicht restlos klären. Für die Richter wird es in diesem Fall besonders schwierig sein, sich selbstständig ein Bild zu machen: Unabhängige Fact-Finding-Missions haben keinen Zugang nach Gaza.

Zitate ultrarechter Minister

Die Vertreter Südafrikas glaubten in Israels Handeln einen "Vorsatz zum Völkermord“ zu erkennen. Sie belegten das unter anderem mit Aussagen mehrerer israelischer Regierungsmitglieder, die eine kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung in Gaza gefordert hatten (DER STANDARD berichtete). Israel setzte diesen Zitaten jedoch Aussagen mindestens ebenso hochrangiger Politiker entgegen, die sehr wohl zwischen Zivilbevölkerung und Hamas unterschieden.

Dass Israel in den vergangenen Wochen zudem eine "stark ansteigende Menge" an humanitären Lieferungen in den Gazastreifen zugelassen habe, sei ein Beleg, dass von einem Willen zum Völkermord keine Rede sein könne. Dass dieser Anstieg an Hilfslieferungen reicht, um weiteres Massensterben in Gaza zu verhindern, bezweifeln Hilfsorganisationen. Israel macht auch dafür die Hamas verantwortlich.

Rückendeckung bekommt Israel von Deutschland: Die Regierung in Berlin weist den Vorwurf des Völkermords "entschieden und ausdrücklich zurück", hieß es am Freitag in einer Presseaussendung. Zudem "intendiert" die Bundesregierung, "in der Hauptverhandlung als Drittpartei zu intervenieren".

Eilbeschluss über vorläufige Maßnahmen

Um die Frage, ob Israel tatsächlich einen Völkermord in Gaza verübt, geht es vorerst aber nicht. Diese komplexe Frage wird der Gerichtshof wohl erst beantworten, wenn der Krieg in Gaza längst vorbei ist. Jetzt geht es um die Frage, ob die Richter plausible Gründe haben für die Annahme, dass ein Völkermord drohen könnte, wenn der Gerichtshof nicht sofort interveniert.

Der Gerichtshof wird bereits in den kommenden Wochen verkünden, ob er die Vorwürfe Südafrikas zurückweist oder aber dem Staat Israel vorläufige Maßnahmen verordnet, um die Gefahr eines Genozids abzuwenden. Das kann im Extremfall eine flächendeckende Waffenruhe beinhalten, wie es Südafrika verlangt. Die Intervention kann sich aber auch darauf beschränken, Israel konkrete Maßnahmen zur Entspannung der humanitären Lage in Gaza aufzuerlegen.

Keine Machtmittel

Israel kann dagegen keine Berufung einlegen, die Anordnung ist bindend. Das Gericht hat aber keine Sanktionsmöglichkeiten, wenn ein Staat sich nicht daran hält. Es liegt dann an den Vereinten Nationen, Sanktionen zu verhängen, und diese Sanktionen könnten – wie in den meisten Fällen zuvor – von den USA per Veto blockiert werden. Washington würde sich diesen Rückhalt allerdings einiges kosten lassen und erheblichen Druck auf Israel ausüben, glauben Experten in Israel. Schon jetzt steht US-Präsident Joe Biden unter massivem Zugzwang aus dem eigenen Lager. Im Fall, dass der Gerichtshof konkrete Anhaltspunkte für einen Genozid-Vorwurf sieht, würde Biden wohl unter zunehmende Erklärungsnot geraten.

An einem ganz anderen Schauplatz wurde die zweitägige Anhörung vor dem IGH aber mindestens ebenso aufmerksam mitverfolgt wie in Israel: nur wenige Kilometer entfernt vom IGH, am Haager Tribunal. Der Strafgerichtshof könnte sich in einem späteren Schritt ebenfalls mit dem aktuellen Krieg in Gaza beschäftigen. Anders als der IGH, der sich an Staaten richtet, kann das Tribunal auch konkrete Personen verfolgen. Vor dem Strafgerichtshof wird sich somit auch die Hamas ihrer rechtlichen Verantwortung für die schweren Verbrechen am und seit dem 7. Oktober nicht entziehen können. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 12.1.2024)