Dissident Konzeptualismus Anti-Putin Poesie Russland
Poet Lew Rubinstein trotzte mit der Macht der Karteikarte der Sowjetdiktatur und auch dem Autokratismus eines Wladimir Putin. Jetzt ist der Moskauer Avantgardekünstler an den Folgen einer Karambolage mit einem Auto gestorben.
AFP/AFPTV TEAMS

Autor Lew Rubinstein war gelernter Bibliograf am Moskauer Staatlichen Pädagogischen Institut. Mitten in der tiefsten Agonie des Sowjetimperiums nahm er es mit dessen Regelwerk auf: ein dichtender David allein gegen den Goliath der Sowjetmacht.

Rubinstein setzte der Flut an absurden Vorschriften – Ausdruck der allgegenwärtigen Gängelung jedes Einzelnen - eine Vielzahl von Karteikarten entgegen. Die auf ihnen verzeichneten Sätze glichen oft nur Vermerken: Abwandlungen einer Wirklichkeit, die - trotz sozialistischer Wissenschaftshörigkeit – keinerlei Überprüfung standhielt, am wenigsten der moralischen.

Lew Rubinsteins Konzeptkunst überwand den engen Rahmen der Samisdat-Kultur. Er gehörte jener Generation von Soz-Artisten und Konzeptualisten an, die für den "Sozialistischen Realismus" nur Verachtung übrig hatten. Rubinsteins feine poetische Ironie nahm es auch mit Finsterlingen wie Russlands Präsident Wladimir Putin auf: Den Überfall auf die Ukraine bezeichnete der Avantgardist 2022, gemeinsam mit anderen Briefunterzeichnern, folgerichtig als "kriminellen Krieg".

Jetzt ist Rubinstein in Moskau den Verletzungen erlegen, die er infolge eines Verkehrsunfalls am 8. Jänner erlitten hatte. Ein als Verkehrsrowdy einschlägig bekannter Autofahrer hatte vor dem Zebrastreifen nicht abgebremst. Der Notizkartendichter, dessen fantastisches Kalenderbuch Ein ganzes Jahr erst 2021 bei der Friedenauer Presse (Matthes & Seitz) erschienen ist, wurde 76 Jahre alt. (Ronald Pohl, 14.1.2024)