Wien und Liliana Cavani verbindet eine lange Amour fou. Hier spielt ihr bekanntester Film Il portiere di notte. Hier fand sie den perfekten Hintergrund für die sadomasochistische Wiederbegegnung zwischen einer Holocaust-Überlebenden und einem SS-Lageraufseher, gespielt von Charlotte Rampling und Dirk Bogarde. Der Stephansdom dient ihr an einer Stelle als Hintergrund für das Treffen einiger Nachkriegsnazis. Er sei stolz und würde alles genau so wieder machen, sagt einer davon, und ein Sieg-Heil-Ruf ertönt über den Dächern der Stadt.
"Die Premiere fand in Wien statt, als ob die Wiener sich über diesen Film freuen würden, was sie nicht taten. Wien war der richtige Ort, um die Geschichte zu erzählen," sagt Cavani heute im Gespräch mit dem Wiener Filmmuseum, das ihr zusammen mit Marco Bellocchio seine Auftakt-Retrospektive 2024 widmet, inklusive der Premiere ihres neuen Films L’ordine del tempo. Liliana Cavani, die auch als Opern- und Theaterregisseurin arbeitet, ist die Beschäftigung mit der "Psychologie der Politik" in die Wiege gelegt.
Geboren 1933 in der Emilia-Romagna, machte sie ihr antifaschistischer Großvater mit Marx und Bakunin bekannt. Ihre filmische Karriere begann mit Rai-Reportagen wie Storia del Terzo Reich oder La donna nella Resistenza – Inspiration für ihre späteren Spielfilmfiguren. Darstellerin Charlotte Rampling erinnerte in ihrer Laudatio auf Caviani zur Verleihung des Goldenen Löwen für deren Lebenswerk an die Worte einer Auschwitz-Überlebenden, die ihren Peinigern nie habe vergeben können, durch sie ihre eigene dunkle Seite kennengelernt zu haben.
Komplizierte Rezeption
Auch Cavani haben manche diese kompromisslose Wiederbegegnung mit dem Bösen auf der Leinwand nicht vergeben. Publikum und Kritik reagierten teils mit vehementer Ablehnung auf Il portiere di notte, dieses unerhörte Werk der Regisseurin. Pervers, widerwärtig, anstößig, ausbeuterisch und pornografisch sei es, meinten US-Kritikerinnen wie Pauline Kael, Nora Sayre oder Roger Ebert. Cavani selbst formuliert es diplomatischer: "Die internationale Rezeption war kompliziert, und der Film war umstritten. Er wurde sehr geliebt, sogar als ein sehr mutiger Film angesehen. Aber damals fühlte ich mich wenig verstanden."
Auch ihre ersten drei Filme Francesco d’Assisi ("häretisch und blasphemisch"), Galileo ("antiklerikal") und ihre 68er-Antigone -Allegorie I cannibali trafen ins Schwarze, ebenso wie ihre größeren Filme La pelle mit Marcello Mastroianni, Francesco mit Mickey Rourke und Helena Bonham-Carter oder Ripley’s Game mit John Malkovich. Dabei provoziert Liliana Cavani wie alle echten Provokateure nicht absichtlich. "Ich bin nicht provokant, sondern frei", so die Filmerin. "Der Geschmack für alles Transgressive liegt in meiner Natur."
Am vergangenen Freitag beging Liliana Cavani ihren 91. Geburtstag. Feiern wollte sie ihn eigentlich in Wien bei der Eröffnung der Retrospektive, musste aber absagen. Bis Ende Februar kann man ihr hier nun wiederbegegnen. (Marian Wilhelm, 15.1.2024)