Das EU-Parlament in Straßburg.
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Jetzt müssen sich nur noch die Grünen für eine Spitzenkandidatin oder einen Listenersten entscheiden. Alle anderen im Europäischen Parlament vertretenen Parteien haben das schon hinter sich. Am Montag gab der Bundesparteivorstand der ÖVP bekannt, Reinhold Lopatka als Nummer eins in die EU-Wahl am 9. Juni zu schicken.

Reinhold Lopatka ist fix: Am Montag verkündete die ÖVP ihn als Spitzenkandidaten zur EU-Wahl.
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Lopatka sei ein "außenpolitischer Vollprofi mit dem richtigen Gespür dafür, was es braucht, um die Rolle Österreichs in Europa weiter zu stärken", erklärte ÖVP-Chef Karl Nehammer. Dabei soll sich die Suche nach einem türkisen Spitzenkandidaten schwierig gestaltet haben: Wegen Differenzen mit der Parteiführung hatte Othmar Karas im Oktober bekanntgegeben, nicht mehr für die Volkspartei zu kandidieren. Zahlreiche Personen sollen seither für den Job abgesagt haben. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, die bei der EU-Wahl 2019 noch auf Listenplatz zwei kandidiert hatte, erklärte schon im Sommer, nicht mehr zur Verfügung zu stehen, Außenminister Alexander Schallenberg soll ebenfalls abgewunken haben. Lange hielt sich das Gerücht, dass die ehemalige ORF-Talkerin Vera Russwurm eine mögliche Kandidatin sei – doch auch sie wollte letztlich nicht.

Lena Schilling wird als Kandidatin für die Grünen gehandelt – nachdem es zuvor Absagen gehagelt hat.
Heribert Corn

Bei den Grünen gestaltet sich die Besetzung ähnlich kompliziert. Etliche zeigten kein Interesse – allen voran die Favoritin für den Posten, Umweltministerin Leonore Gewessler. Justizministerin Alma Zadić soll ebenso wenig Lust gehabt haben. Weiter im Gespräch ist hingegen Klimaaktivistin Lena Schilling. Eine Quereinsteigerin wählte die Partei bei der EU-Wahl 2019 auf den zweiten Platz: Köchin Sarah Wiener kandidierte hinter Werner Kogler, doch auch sie hat keine Lust mehr. Entscheiden müssen sich die Grünen spätestens beim Bundeskongress am 24. Februar.

Warum tun sich Parteien so schwer, Kandidatinnen und Kandidaten für Europa zu finden? Ist die Arbeit in Brüssel beziehungsweise Straßburg tatsächlich so unbeliebt?

Kleines Rädchen im großen Brüssel

Eine allgemeingültige Antwort gibt es dafür wohl nicht. Ein paar Gründe, die für die meisten Parteien und potenziellen Kandidaten eine Rolle spielen, allerdings schon. Zum Beispiel: die beschränkten Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen unter mehr als 700 Parlamentariern. "Politik hat den Anspruch von Gestaltung. Als EU-Abgeordneter ist man aber nur ein sehr kleines Rädchen im großen Straßburg oder Brüssel", sagt Politologe Peter Filzmaier dem STANDARD.

Dazu komme der geringe Stellenwert von EU-Politik, der sich regelmäßig in einer "erschütternd niedrigen Wahlbeteiligung" niederschlage. Und wer will sich schon für etwas hergeben, das gemeinhin als irrelevant gesehen wird? Karrierebewussten droht zudem das Risiko, in der Ferne von Informationen und Parteikontakten abgeschnitten zu werden: "Wer in Österreich noch Karriereambitionen hat, kann aus der Ferne schwieriger informell netzwerken", erklärt Filzmaier.

Zusätzlich erschweren – oder erleichtern – Dynamiken in den einzelnen Parteien die Suche. Für die ÖVP etwa gibt es bei der EU-Wahl wenig zu gewinnen. Mit 34,6 Prozent ließ die Volkspartei 2019 die anderen Parteien weit hinter sich. Diesmal dürfte das anders sein. Zuletzt prognostizierten ihr Umfragen deutliche Verluste. Unter diesen Bedingungen führt wohl kaum einer seine Partei gerne in eine Wahlauseinandersetzung.

Politisches Abstellgleis

Die FPÖ wiederum könnte heuer zwar abräumen. Für die Blauen ist die EU aus anderen Gründen ein ungeliebter Posten. Sie lehnten 1994 den Beitritt Österreichs ab und erkoren die EU seither zu ihrem Feindbild. Daher überrascht es nicht, dass sich bei den Freiheitlichen kaum jemand für Funktionen in der EU erwärmen kann. Für Harald Vilimsky, der nun zum dritten Mal in Folge ins Rennen zieht, war der Posten lange Jahre überhaupt nur ein Zweitjob – neben seiner Tätigkeit als Generalsekretär auf Bundesebene.

Für Harald Vilimsky ist es die dritte Kandidatur für die FPÖ bei einer EU-Wahl.
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Vilimsky hatte diesmal gleich mehrere Gründe, eine weitere Runde zu drehen. Zum einen kann man ihm eine gewisse Begeisterung nicht absprechen: Bei Sitzungen fehlt er so gut wie nie, meldet sich dort oft zu Wort. Zudem ist Vilimsky international in den rechten Parteien sehr gut vernetzt. Er setzt sich bereits seit längerem dafür ein, die FPÖ zu einer Vorreiterin in einem breiten Netzwerk Gleichgesinnter zu machen. In Österreich hingegen hätte Vilimsky, einst enger Vertrauter von Ex-FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und in der Wiener FPÖ beheimatet, unter Kickl als Parteichef kaum Aussichten auf einen Topjob.

EU-Spitzenkandidat Andreas Schieder wollte 2018 eigentlich SPÖ-Landesparteivorsitzender in Wien werden.Er scheiterte an Michael Ludwig.
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Die SPÖ hat mit Andreas Schieder ihren Spitzenkandidaten schon länger gefunden. Er trat erstmals 2019 in dieser Position an. Allerdings war der Weg in die EU eher ein Trostpflaster. Im Jahr zuvor war Schieder in Wien gescheitert: Er unterlag in der Kampfabstimmung um den Job des Landesparteichefs und Bürgermeisters Michael Ludwig. Das EU-Parlament als Abstellgleis – ein Winkelzug, den nicht nur die SPÖ kennt. "Die Geschichte von EU-Wahlen zeigt, dass sie oft das politische Ausgedinge von Kandidaten waren", sagt Politologe Filzmaier. Für die Personalsuche sei das ein Problem: "Diesen Beigeschmack wollen viele nicht haben."

Nationalratsabgeordneter Helmut Brandstätter muss sich der Vorwahl der Neos stellen. Chancen werden seinen 15 Gegenkandidaten nicht zugeschrieben.
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Keine großen Schwierigkeiten bei der Listenerstellung haben hingegen die europafreundlichen Neos. Helmut Brandstätter will die Pinken in die EU-Wahl führen. Dafür muss er allerdings noch den internen Vorwahlprozess durchlaufen. 62 Personen wollen gerne für die Neos antreten, 15 davon auf Listenplatz eins. Keinem werden Chancen gegen den Nationalratsabgeordneten zugeschrieben.

Doch wieso lassen die Grünen so lange auf sich warten? Kaum einer hält die Neuauflage der türkis-grünen Zusammenarbeit oder eine Ampelkoalition aus SPÖ, Grünen und Neos für möglich – auch weil es sich rechnerisch derzeit nicht ausgeht. Hätten grüne Funktionärinnen, die aktuell in der Regierung sind, also nicht allen Grund, nach Europa zu blicken? Für Filzmaier wäre das logisch. Was schreckt also ab? Womöglich die Perspektive, nach Gewesslers Absage bloß die zweite Wahl zu sein.

Persönlicher Einschnitt

Neben all den strategischen und parteipolitischen Überlegungen kommt allerdings noch ein weiterer, persönlicher Faktor hinzu. Ein EU-Job bedeutet auch eine Änderung der eigenen Lebensumstände. Zumindest für eine gewisse Zeit muss der Wohnsitz verlegt werden: Die eine oder der andere wird gute Gründe haben, nicht Woche für Woche nach Brüssel oder einmal im Monat nach Straßburg pendeln zu wollen. Zuletzt war inoffiziell aus mehreren Parteien zu hören, dass eine favorisierte Kandidatin oder ein Kandidat aus privaten, familiären Gründen abgesagt habe.

Wobei man auch sagen muss: Nicht alle, die sich in die erste Reihe stellen, landen dann auch tatsächlich in Brüssel. Für Kogler und Edtstadler war es nur ein kurzes Zwischenspiel, bevor sie in die Bundesregierung wechselten. (Oona Kroisleitner, Stefanie Rachbauer, Sandra Schieder, 15.1.2024)