Eine langerwartete Entscheidung des "verstärkten Senats" am Obersten Gerichtshof (OGH) reagiert auf einen jahrelangen Meinungsstreit unter Juristinnen und Juristen. Laut dem Urteil können Eltern, die aufgrund eines Arztfehlers ungewollt ein Kind bekommen haben, Schadenersatz verlangen.

Relevant ist das zum Beispiel in Fällen, in denen eine Vasektomie oder eine Eileiterunterbindung schiefgelaufen ist oder wenn einer Frau bei einer künstlichen Befruchtung mehr Embryonen eingesetzt wurden, als sie wollte, und sie ein Kind "zu viel" bekommen hat. Laut dem Obersten Gerichtshof kann der Arzt oder die Ärztin in diesen Fällen für den Unterhalt des Kindes haften (OGH 21.11.2023, 3 Ob 9/23d).

Änderung der Rechtsprechung

Bisher hat der OGH das abgelehnt. In der Rechtsprechung herrschte vielmehr das Credo, dass die Geburt eines Kindes grundsätzlich keinen Schadenersatz auslösen könne. Insofern komme auch Geldersatz für die ungewollte Elternschaft nicht infrage – etwa für die Versorgung des Kindes mit Kleidung und Essen.

Allerdings stand das im Widerspruch zu vergleichbaren Fällen, in denen es um behinderte Kinder ging. So sprach der OGH etwa schon bisher Schadenersatz zu, wenn Ärzte bei einer pränatalen Diagnostik aus eigenem Verschulden keine Behinderung feststellen konnten, sich betroffene Frauen in der Folge gegen einen Abbruch der Schwangerschaft entschieden und ein behindertes Kind zur Welt brachten.

In seiner aktuellen Entscheidung gleicht der Oberste Gerichtshof nun seine Rechtsprechung zu nichtbehinderten und behinderten Kindern an. Die bisherigen Entscheidungen seien "nicht mehr aufrechtzuerhalten". In beiden Fallkonstellationen bekommen die Eltern Schadenersatz, wenn der Arzt schuldhaft gehandelt hat. Üblicherweise sind Medizinerinnen und Mediziner für solche Fälle versichert und müssen den Schaden letztlich nicht selbst tragen.

Eine schwangere Frau im Krankenhaus.
Die Frage von Schadenersatz bei ungewollten Schwangerschaften zählt zu den umstrittensten im österreichischen Zivilrecht.
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Fehler bei Pränataldiagnostik

Ausgangspunkt der revolutionären OGH-Entscheidung war eine mangelhafte Pränataldiagnostik. Eine schwangere Frau ließ die Untersuchung durchführen, der Arzt machte dabei allerdings einen groben Fehler: Er übersah, dass das Kind körperlich schwer behindert zur Welt kommen wird, obwohl er das schon bei einer Ultraschalluntersuchung im ersten Trimester der Schwangerschaft hätte erkennen können.

Hätten die Eltern von der Behinderung gewusst, hätten sie sich für einen Abbruch der Schwangerschaft entschieden, weil sie sich die Versorgung des Kindes "weder emotional noch kräftemäßig zugetraut hätten", heißt es in dem Urteil. Deshalb verlangten sie von dem Arzt Ersatz der Schäden, die ihnen "aus der Geburt des Kindes (der unterbliebenen Abtreibung)" entstanden sind. Mit "Schaden" ist dabei vor allem der Unterhalt gemeint, also die Versorgung des Kindes.

Der Arzt lehnte die Forderung der Eltern ab, und zwar unter Verweis auf die bisherige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs: Wenn für nichtbehinderte Kinder kein Schadenersatz gebühre, dann müsse für behinderte Kinder dasselbe gelten. Wenn überhaupt, dann hafte er nur für den finanziellen Mehraufwand der Eltern, der auf die Behinderung des Kindes zurückzuführen ist, argumentierte der Arzt. Doch der Oberste Gerichtshof gab den Eltern recht.

Haftung unabhängig von Behinderung

Zwar liegt der Arzt laut dem Höchstgericht richtig damit, dass nichtbehinderte und behinderte Kinder gleich behandelt werden müssen. Allerdings ziehen die Richterinnen und Richter einen anderen Schluss als der Arzt: Die Gleichbehandlung führe nicht dazu, dass in beiden Fallkonstellationen kein Schadenersatz gebühre, sondern umgekehrt dazu, dass den Eltern in beiden Fallkonstellation Schadenersatz zusteht.

Der Oberste Gerichtshof stellt also klar: Verschuldet ein Arzt einen Fehler, ohne den das Kind nicht geboren worden wäre, haftet er für den Unterhalt – und zwar unabhängig von einer allfälligen Behinderung des Kindes.

"Positive" Klarstellung

Der Fallkomplex, der unter Juristinnen und Juristen unter den Schlagworten "wrongful conception" und "wrongful birth" diskutiert wird, ist mit schwierigen ethischen Fragen verbunden – entsprechend umstritten ist die Diskussion über möglichen Schadenersatz. In der aktuellen Entscheidung zitiert der OGH rund 30 verschiedene Rechtsmeinungen österreichischer Zivilrechtler.

Im Vorfeld der Entscheidung hatten etwa die Zivilrechtsprofessoren Stefan Perner und Martin Spitzer in einem Fachbeitrag betont, dass es "zweifellos Zeit für eine kohärente Lösung beider Fallgruppen" sei. "Es ist daher sehr positiv, dass der OGH Klarheit in dieser lang umstrittenen Frage schafft", sagt Spitzer zum STANDARD. Es sei nie einsichtig gewesen, warum die Fälle verschieden behandelt werden sollen. Man dürfe dabei aber nicht den häufigen Fehler machen, vom "Kind als Schaden" zu sprechen. "Es geht ausschließlich um den Unterhaltsaufwand, den die betroffenen Eltern haben", erklärt Spitzer.

Auch Andreas Kletečka, Professor für Zivilrecht an der Universität Salzburg, begrüßt, dass der OGH die unterschiedliche Behandlung der beiden Fallkonstellationen aufgibt. Aus seiner Sicht enthält die Entscheidung aber auch "bedenkliche Wertungen". So kritisiert Kletečka etwa, dass den Eltern nicht nur der Mehraufwand aufgrund der Behinderung abgegolten wird, sondern der gesamte Unterhalt. Schließlich hätten die Eltern bei einem nichtbehinderten Kind – das sie ja wollten – ebenfalls Unterhalt bezahlen müssen.

Das Urteil kommt jedenfalls zu einem interessanten Zeitpunkt. Zahlreiche Frauen, denen fehlerhafte Verhütungsspiralen von Eurogine eingesetzt wurden, haben in den vergangenen Jahren den Weg zu den Gerichten beschritten. Darunter sind neben Betroffenen, die Schmerzen erlitten haben, auch Frauen, die aufgrund der defekten Spirale ungewollt schwanger geworden sind. Erst vor eineinhalb Jahren hatte der OGH in einem derartigen Fall einen Schadenersatzanspruch verneint. (Jakob Pflügl, 19.1.2024)